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       # taz.de -- Urteil zu Psychopharmaka: Kein Zwang zur Medikation
       
       > Das Bundesverfassungsgericht billigt Psychiatriepatienten, die keine
       > Neuroleptika wollen, ein „Recht zur Krankheit“ zu. Es zählt die
       > Patientenverfügung.
       
   IMG Bild: Forensische Psychiatrie: Auch Straftäter können eine Behandlung ablehnen
       
       Freiburg taz | Das Bundesverfassungsgericht hat den Schutz gegen
       Zwangsbehandlungen mit Psychopharmaka gestärkt. Patientenverfügungen, die
       solche Medikamente ablehnen, sind verbindlich – außer der Kranke gefährdet
       andere Menschen.
       
       Konkret ging es um einen 1979 geborenen Mann aus Franken. Er hatte 2015 im
       Wahn mit einem Besteckmesser auf einen Nachbarn eingestochen und versucht,
       diesen zu töten. Gutachter attestierten ihm eine „Schizophrenie vom
       paranoid-halluzinatorischen Typ“. Er wurde nicht strafrechtlich verurteilt,
       sondern in der Psychiatrie untergebracht. Dort muss er bleiben, bis er
       nicht mehr gefährlich ist.
       
       Die Ärzte in der Psychiatrie wollten ihn mit sogenannten Neuroleptika
       behandeln, auch um hirnorganische Schäden zu verhindern. Der Mann legte
       jedoch eine Patientenverfügung aus dem Jahr 2015 vor, in der er allen
       Ärzten die Gabe von Neuroleptika verbot. Die Behandlung mit solchen
       Medikamenten ist vor allem bei Psychiatriekritiker:innen umstritten.
       Sie glauben, dass die Nebenwirkungen den Nutzen weit überwiegen. Die
       Patient:innen würden zu dauerhaften Wracks, so der Vorwurf.
       
       Doch die bayerischen Gerichte genehmigten die Zwangsbehandlung. Sie gingen
       zwar davon aus, dass die Verfügung noch im Zustand der Einsichtsfähigkeit
       geschrieben wurde. Vorrang habe jedoch die staatliche Schutzpflicht für die
       Gesundheit des Mannes. Ohne Behandlung sei seine Entlassung dauerhaft
       gefährdet.
       
       ## Respekt vor dem Willen der Kranken
       
       Die Verfassungsbeschwerde des Mannes hatte nun aber Erfolg. Die Genehmigung
       der Zwangsbehandlung habe sein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit
       verletzt, entschied der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts. Wenn
       eine wirksame Patientenverfügung die Gabe von Neuroleptika verbietet, dann
       könne eine Zwangsbehandlung nicht mit den Interessen des Kranken
       gerechtfertigt werden.
       
       Der Mann habe ein „Recht zur Krankheit“, so die Karlsruher Richter:innen.
       Die Ablehnung einer Behandlung sei zu respektieren, auch wenn ein
       dauerhafter Verlust der Freiheit drohe.
       
       Die bayerischen Gerichte müssen nun neu über die Zwangsbehandlung
       entscheiden. Dabei ist zunächst die Patientenverfügung zu prüfen, so die
       Vorgabe aus Karlsruhe. Ist diese wirklich in einem Zustand der
       Einsichtsfähigkeit geschrieben worden? Und sind die Festlegungen so
       bestimmt, dass sie auch auf die Situation in der Maßregelpsychiatrie
       passen?
       
       ## Gefährdung anderer zählt auch
       
       Sollte die Patientenverfügung des Mannes bindend sein, könne eine
       Zwangsbehandlung nur gerechtfertigt werden, so das Verfassungsgericht, wenn
       sie dem Schutz anderer Menschen dient. Im konkreten Fall ist dies durchaus
       denkbar, weil der Mann bereits mehrfach das Pflegepersonal der Psychiatrie
       angegriffen hat.
       
       Doch auch wenn eine Zwangsbehandlung genehmigt werden kann, müsse das
       Klinikpersonal immer wieder versuchen, so die Richter:innen, die Maßnahme
       zu erklären und eine „auf Vertrauen gegründete Zustimmung“ zu erhalten. Die
       Karlsruher Entscheidung dürfte auch für Psychiatriepatient:innen
       Bedeutung haben, die keine Straftaten begangen haben. (Az.: 2 BvR 1314/18).
       
       30 Jul 2021
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Christian Rath
       
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