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       # taz.de -- Verbannung von Kolumbus: Geschichte neu denken
       
       > Sich mit indigenen Fahnen zu schmücken, gehört für die Regierung Mexikos
       > zum guten Ton. Ihre politischen Entscheidungen sehen aber oft anders aus.
       
   IMG Bild: Mexiko-Stadt, die Statue von Christoph Kolumbus, bevor sie die Bürgermeisterin entfernen ließ
       
       Wären da nicht die Bienen gewesen, wäre Christoph Kolumbus jetzt wohl
       kopflos. Zumindest der Kopf einer Statue des in spanischen Diensten
       stehenden Eroberers in Guatemala-Stadt wäre einigen Demonstrantinnen und
       Demonstranten zum Opfer gefallen, wenn diese nicht bei ihrem Angriff aus
       Versehen eine Wabe zerstört hätten. So mussten die Protestierenden vor den
       aufgescheuchten Insekten flüchten.
       
       Die Attacke fand an 12. Oktober statt, jenem Tag, an dem Kolumbus vor 529
       Jahren auf dem amerikanischen Kontinent landete und den viele in Guatemala
       immer noch nach spanischem Vorbild „Tag der Hispanität“ nennen. Immerhin
       „Hispanität“, denn in einigen lateinamerikanischen Ländern geht er bis
       [1][heute als „Tag der Rasse“ durch.]
       
       Doch während in Spanien die Invasion mächtig gefeiert wird, nutzen viele
       Latinas und Latinos den Jahrestag, um auf die Ambivalenz und die
       mörderischen Folgen der „Conquista“ aufmerksam zu machen. In Argentinien
       spricht man vom „Tag des Respekts der kulturellen Vielfalt“, in Chile etwas
       euphemistisch vom „Tag des Aufeinandertreffens zweier Welten“ und in
       Venezuela vom „Tag des indigenen Widerstands“. Der venezolanische
       Ex-Staatschef Hugo Chávez ließ 2009 eine Kolumbus-Statue demontieren, seine
       argentinische Kollegin Cristina Fernández de Kirchner folgte ihm 2013.
       
       ## „Tag der multikulturellen Nation“
       
       Mit der Wahl des Präsidenten Andrés Manuel López Obrador und der
       Hauptstadt-Bürgermeisterin Claudia Sheinbaum von der linken Morena-Partei
       vor drei Jahren ist die Debatte auch in der mexikanischen Regierung
       angekommen. „Es gibt keine Rassen, nur Kulturen“, erklärte der Staatschef
       vor einigen Tagen, erstmals wurde dieses Jahr der 12. Oktober als „Tag der
       multikulturellen Nation“ gefeiert. [2][Sheinbaum ließ ein Kolumbus-Denkmal
       abbauen,] das seit 1877 die Prachtstraße Paseo de la Reforma zierte. Die
       Statue müsse renoviert werden, hieß es damals. Allerdings dürfte der Grund
       ein anderer gewesen sein: Der in Stein gemeißelte Eroberer musste kurz vor
       einer Demonstration gehen, die er wohl nicht überlebt hätte.
       
       Kolumbus wird nicht zurückkehren und künftig etwas abgelegener im reichen
       Viertel Polanco wohnen. Seinen Platz soll „La Joven de Amajac“ einnehmen.
       Die „Junge von Amajac“ ist ein ca. 500 Jahre altes archäologisches
       Fundstück, das erst Anfang des Jahres entdeckt wurde. „Eine Frau, und
       speziell eine indigene Frau an diesen Ort zu stellen, bedeutet, die
       Geschichte neu zu denken“, erklärte Sheinbaum.
       
       Zuvor hatte sie sich mächtig Ärger eingehandelt. Eigentlich sollte eine
       Statue namens „Tlali“ Kolumbus ersetzen, aber die Skulptur wurde von dem
       Künstler Pedro Reyes erstellt. Dass ein weißer Bildhauer eine indigene Frau
       meißelt, stieß auf heftige Kritik.
       
       Zwischendurch hatten auch noch Feministinnen ein „Antimonument“
       installiert: die Holzskulptur einer Frau mit erhobener Faust, ergänzt durch
       die Namen zahlreicher Frauen, die von Männern ermordet wurden. Doch das
       „Rondell kämpfender Frauen“ konnte sich gegen die Junge von Amajac nicht
       durchsetzen. Die Regierung schmücke sich gerne mit der indigenen Fahne,
       erklärte eine Aktivistin von „Kollektiv Antimonument“.
       
       Tatsächlich inszeniert sich die Regierung gerne als Verteidiger der
       indigenen Geschichte: López Obrador fordert vom spanischen König eine
       Entschuldigung für koloniale Verbrechen, setzt sich für die [3][Rückgabe
       von Raubkunst ein] und feiert aufwändig den „indigenen Widerstand“.
       
       Im wirklichen Leben sieht es anders aus. Im Bundesstaat Chiapas gehen seine
       Parteifreunde gewaltsam gegen autonome indigene Gemeinden vor. Auch seine
       Prestigeprojekte kommen bei den ursprünglichen Einwohnern nicht unbedingt
       gut an. So etwa der „Tren Maya“, eine Touristenschnellbahn auf der
       Halbinsel Yucatán. Sie befürchten, dass die Anlage ihren Lebensraum
       zerstört. Am „Tag der multikulturellen Nation“ beschädigten einige
       Maya-Nachfahren dort eine Kolumbus-Statue – aus Protest gegen den Zug und
       die Politik des Präsidenten.
       
       19 Oct 2021
       
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