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       # taz.de -- Vergesellschaftungskonferenz 2.0: Luxus für alle
       
       > Ob Care, Landwirtschaft, Mobilität oder Energie: Die „Let's Socialize“
       > Konferenz sucht nach Wegen gemeinwohlorientierten Wirtschaftens.
       
   IMG Bild: Teilnehmende bei einem Workshop: Bevor vergesellschaftet wird, bedarf es einer Menge Gehirnschmalz
       
       Werbellin taz | „Wie enteignen wir ein Shoppingcenter feministisch?“ oder
       „VW vergesellschaften. Aber was fangen wir mit einem Autokonzern an, der
       uns gehört?“ Schon beim Lesen des Programms wird klar: An Selbstbewusstsein
       und politischem Vorstellungsvermögen mangelte es den
       Organisator:innen der Vergesellschaftungskonferenz „Let’s Socialize“
       nicht.
       
       Der Anspruch, nicht nur große Fragen, sondern auch große Antworten finden
       zu wollen, zog sich durch die gesamte Konferenz. „Das Wirtschaftswachstum
       im Kapitalismus ist die Wurzel der Klimakrise“, sagte Justus Henze,
       Aktivist bei Deutsche Wohnen & Co. enteignen, bei der Eröffnungsrede am
       Freitag. Und: „Wir brauchen Vergesellschaftung für demokratisch gesteuerte
       Konversion statt Green Economy.“
       
       360 Aktivist:innen aus unterschiedlichen sozialen Bewegungen waren am
       Wochenende dem Aufruf zur „Vergesellschaftung als Strategie für
       Klimagerechtigkeit“ untertitelten Konferenz auf dem Gelände der einstigen
       „Pionierrepublik Wilhelm Pieck“ am Brandenburger Werbellinsee gefolgt.
       Gemeinsam diskutierten sie, wie die gesellschaftlichen Teilbereiche
       Mobilität, Energie, Landwirtschaft und Sorge gemeinwohlorientiert und
       demokratisch organisiert werden können.
       
       Der Erfolg des [1][Volksentscheids Deutsche Wohnen & Co. enteignen] 2021 in
       Berlin diente der Konferenz als Blaupause, um auch andere Bereiche als die
       Vergesellschaftung von großen Wohnungsunternehmen in den Fokus zu nehmen.
       Dieser Idee folgte schon 2022 eine erste Vergesellschaftungskonferenz an
       der TU Berlin, die nun mit einem expliziten Blick auf klimapolitiische
       Themen fortgeführt wurde.
       
       ## Große Widerstände
       
       Dabei haben sich die politischen Rahmenbedingungen in den vergangenen
       Jahren eher verschlechtert. Eine Umsetzung des
       Vergesellschaftungsvolksentscheids wird von der schwarz-roten Berliner
       Koalition ohnehin konsequent blockiert, und selbst die zurückhaltende
       [2][Klimaschutzpolitik der Grünen auf Bundesebene] stößt auf Proteste in
       der Bevölkerung.
       
       „Wir spüren deutlichen Gegenwind“, sagte Sina Reisch vom Konzeptwerk Neue
       Ökonomie, einem Thinktank, der an der Organisation der Konferenz beteiligt
       war, „Ein paar Jahre sah es so aus, als würde die Klimabewegung der Treiber
       gesellschaftlicher Entwicklungen sein, aber heute ist es die Angst davor.“
       
       Vergesellschaftung könne ein Instrument sein, diese Ängste zu überwinden,
       argumentieren die Organisator:innen. Schließlich kämpfe man für
       Allgemeineigentum, das allen zugute komme. Je mehr Bereiche der
       Daseinsvorsorge der Profitlogik entzogen würden, umso mehr Teilhabe böten
       diese gerade materiell benachteiligten Bevölkerungsschichten. Als
       „Öffentlichen Luxus“ bezeichnen die Organisator:innen dieses Konzept.
       Es ist eine Art positiver Gegenentwurf zum Neoliberalismus, das ohne die
       moralisierenden Verzichtsbotschaften des klassischen Klimaaktivismus
       auskommt. Nun gelte es das auch zu kommunizieren. „Wir müssen
       Vergesellschaftung sexy machen“, fasste es ein:e
       Konferenzteilnehmer:in zusammen.
       
       Entscheidend dabei ist, dass Vergesellschaftung nicht gleichbedeutend mit
       Verstaatlichung ist. Die Veränderung der Eigentumsverhältnisse bietet nur
       die Grundvoraussetzung, um den Wirtschaftszweck von der Profit- in die
       Allgemeinwohlorientierung zu ändern. Und diese kann auch nur langfristig
       mit einer demokratischen Selbstverwaltung gesichert werden. Kampagnen wie
       Deutsche Wohnen & Co. enteignen fordern daher Organisationsformen wie eine
       Anstalt des öffentlichen Rechts statt staatlichen Eigentums.
       
       ## Das Private ist politisch
       
       Erfrischend konkret wurde es gleich zu Beginn der Konferenz im Themenstrang
       „Sorge“. Die Kampagne „Sorge in Parkcenter“ will leerstehende
       Shoppingcenter in „Sorgezentren“ umwandeln. Ihr Blick richtet sich
       zuvorderst auf das [3][Parkcenter Treptow, das zu 70 Prozent leersteht].
       Geht es nach dem Investor, sollen hier Mikroapartments und Büros entstehen.
       
       „Es geht darum, Räume des Füreinander-Sorgens zu schaffen, das auf die
       Bedarfe der Anwohner:innen eingeht“, erklärten Inga Lamprecht und
       Birgit Wend von der Kampagne. Was in den Räumen der Mall Platz finden
       könnte? Denkbar wäre vieles: gemeinschaftlich verwaltete Kitas,
       Gemeinschaftsküchen, Tagespflegeangebote und Angebote für pflegende
       Angehörige.
       
       Die Idee sei auch, Sorgearbeit, die überwiegend von Frauen und
       migrantisierten Personen geleistet wird, aus den Kleinfamilien
       herauszuholen. „Wir wollen Sorgetätigkeit vergesellschaften, nicht nur das
       Gebäude“, so die Aktivist:innen.
       
       Mit einem Netzwerk aus Sorgezentren in Berlin sollen nicht nur
       Care-Arbeit-Leistende entlastet werden, es soll auch ein Beitrag für mehr
       Klimagerechtigkeit geleistet werden. Könnten ansonsten schwer nach zu
       nutzende Malls vor dem Abriss gerettet werden, werde wertvolles CO2
       eingespart; eine gut ausgebaute Nahversorgung verringere die
       Mobilitätsbedürfnisse; gerecht verteilte Care-Aufgaben schafften Raum, um
       an der sozial-ökologischen Transformation mitzuwirken.
       
       „Wir glauben nicht, dass wir den Eigentümer überzeugen können“, sagte
       Lamprecht. Stattdessen wollen die Aktivist:innen mit Betroffenen im
       Quartier eine Machtstruktur aufbauen und gleichzeitig – bundesweit vernetzt
       – Druck ausüben. Gelegenheit zum Knüpfen von Kontakten hatten Wend und
       Lamprecht am Wochenende reichlich.
       
       18 Mar 2024
       
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