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       # taz.de -- Vermisste vietnamesische Flüchtlinge: Gefangen in kriminellen Strukturen
       
       > Viele minderjährige vietnamesische Flüchtlinge gelten als vermisst. Man
       > spricht von Menschenhandel. Drehscheibe soll das Berliner Dong Xuan
       > Center sein.
       
   IMG Bild: Vietnamesisches Leben im Dong Xuan Center in Lichtenberg
       
       Berlin taz | Mit Autos werden sie ins Dong Xuan Center gebracht, an vielen
       Wochenenden, so erzählt es ein älterer Vietnamese, der seinen Namen nicht
       sagen will, der taz. Er ist Gewerbetreibender in dem großen Asiamarkt in
       Lichtenberg. „Manche kommen mit Koffern. Manche haben gar nichts. Ganz oft
       kommen vor allem junge hochschwangere Frauen.“
       
       Er spricht von Landsleuten, die neu nach Berlin kommen. Illegal. Die jungen
       Vietnamesinnen und Vietnamesen stammen nach Angaben von Flüchtlingshelfern
       vor allem aus Zentralvietnam, aus einer Region, die im Zuge des globalen
       Klimawandels teilweise versalzt und vom Meer verschluckt wird. Andere sind
       Straßenkinder. In einer Flucht nach Europa sehen sie den Ausweg aus ihrer
       Misere. Die Schlepperkosten in Höhe von bis zu 20.000 Euro müssen sie oft
       selbst erarbeiten. Der Weg führt über Russland und Osteuropa nach Berlin
       und dann auch weiter nach Großbritannien, wo in Indoor-Drogenplantagen von
       den Schleusernetzwerken viel Geld zu verdienen ist. Berlin ist vor allem
       Zwischenstation. Ziel ist es allerdings dann, wenn Frauen unterwegs
       schwanger werden.
       
       Andere, so weiß der Mann vom Asiamarkt, haben zuvor in Tschechien oder der
       Slowakei gelebt, waren legal als Arbeitskräfte angeworben worden. Doch die
       Jobs, für die sie geholt wurden, existierten nur für kurze Zeit. An
       Zwischenmänner hätten sie viel Geld gezahlt, um nach Europa zu kommen.
       Jetzt würden sie weiterziehen gen Westen, in der Hoffnung, ihr investiertes
       Geld durch Arbeit zu verdienen.
       
       ## Wenn niemand eine Vermisstenanzeige schreibt
       
       Unter den Neuankömmlingen sollen nach Recherchen des RBB zahlreiche Kinder
       und Jugendliche sein. Und laut RBB gelten seit 2012 in Berlin 472
       vietnamesische minderjährige Flüchtlinge als vermisst, in Brandenburg sind
       es 32, in den Niederlanden 60. Diese Fallzahlen betreffen diejenigen, die
       in einer Jugendhilfeeinrichtung waren und von dort verschwanden. Nach
       Recherchen der taz verschwinden allerdings auch viele junge volljährige
       vietnamesische Flüchtlinge. Nur ist ihre Zahl nicht bekannt, weil bei ihnen
       niemand eine Vermisstenanzeige schreibt wie es im Falle von Kindern und
       Jugendlichen die Jugendhilfeeinrichtungen tun. Ein in den Niederlanden
       verschwundenes vietnamesisches Kind wurde später in Großbritannien
       gefunden, wo es auf einer Indoor-Drogenplantage ausgebeutet wurde.
       
       Der polnische Staatsanwalt Michal Smetowski sprach gegenüber dem RBB von
       „Menschenhandel und moderner Sklaverei“. Ein Junge, der als Zeuge vor einem
       polnischen Gericht aussagte, wurde unterwegs eingesperrt, musste hungern,
       Mädchen wurden vergewaltigt.
       
       Strittig ist, wo die Drehscheibe des Menschenhandels in Berlin ist. Das
       Dong Xuan Center, der zweitgrößte Asiamarkt Europas? Das sagen ein
       Zollsprecher, polnische Ermittler und ein niederländischer
       Investigativjournalist im RBB. Die Berliner Polizei relativiert das
       gegenüber der taz und spricht von dem Center nur als einem „sporadischen
       Anlaufpunkt“. Wesentlich häufiger würden Wohnungen benutzt.
       
       ## Manche wollen „Fake News“ sehen
       
       Bei einem Treffen des vietnamesischen Botschafters und linientreuen
       vietnamesischen Journalisten am vergangenen Freitag im Dong Xuan Center
       wurde laut einem Teilnehmer die ganze Geschichte als „Fake News der
       deutschen Medien“ abgetan. Diese „Fake News“ würden nicht nur dem Ansehen
       des Dong Xuan Centers, sondern auch dem des Staats Vietnam schaden, sollen
       Teilnehmer geklagt haben.
       
       Sowohl die Berliner Polizei als auch Berliner Vietnamesen berichten
       allerdings der taz, dass die Neuankömmlinge in Nagelstudios und bei
       Friseuren oder als Kindermädchen in vietnamesischen Familien arbeiten, um
       das Geld für den weiteren Weg nach Großbritannien zu verdienen. Oder im
       illegalen Zigarettenhandel, der aber stark rückläufig ist. Die Polizei
       spricht darüber hinaus von Hilfsjobs in Läden und in der Gastronomie, etwa
       bei der Warenannahme.
       
       Vergangenes Jahr stand ein illegal eingereistes vietnamesisches
       Kindermädchen vor dem Berliner Landgericht, weil es das ihm anvertraute
       Baby aus Überforderung zu Tode geschüttelt hatte. Ohne diesen tragischen
       Todesfall würde die Frau wahrscheinlich bis heute unbemerkt in Berlin oder
       in Großbritannien leben.
       
       Die SPD will das Thema der ausgebeuteten und verschwundenen Kinder in den
       Innenausschuss einbringen.
       
       ## Problem die Illegalität
       
       Nguyen Huu Thanh von der Vereinigung der Vietnamesen in Berlin und
       Brandenburg gehört zu denen, die die illegal eingewanderten und inzwischen
       legalisierte Landsleute in Berlin zu Ämtern und Ärzten begleiten oder für
       sie übersetzen. „Das Problem besteht doch nur, weil Einwanderung illegal
       ist und das Konzept im Umgang mit illegalen Einwanderern darin besteht, sie
       abzuschieben. Gäbe es legale Zuwanderungswege, gäbe es das Problem nicht“,
       sagt er der taz.
       
       Dass Vietnamesen unter abenteuerlichen Umständen nach Europa kommen und
       hier in die Fänge von kriminellen Strukturen geraten, kennt man aus den
       1990er Jahren. Damals blühten der illegale Zigarettenhandel und die damit
       einhergehende Begleitkriminalität. Der katholische Seelsorger für
       Vietnamesen, Stefan Taeubner, hat darüber 2018 einen Roman veröffentlicht.
       In den „Neuen Leiden des Mädchens Kieu“ hat er sich das von der Seele
       geschrieben, was seine Schützlinge in Berlin ihm anvertraut hatten. Es ging
       um Menschen, die im illegalen Zigarettenhandel, in der Zwangsprostitution
       und in den Fängen einer Mafiabande landeten, von Landsleuten ausgebeutet
       wurden und in Deutschland illegalisiert waren. Ihre Verwandten in Vietnam
       wurden von Schlägern, die von den Schlepperorganisationen kamen,
       misshandelt, solange die nach Deutschland geschickten Flüchtlinge die
       Schleuserkosten nicht abgezahlt hatten.
       
       24 Jun 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marina Mai
       
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