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       # taz.de -- Verschiebung der Gaza-Debatte: Für die Toten zu spät
       
       > Immer mehr Medien berichten kritisch über Israels Kriegsverbrechen in
       > Gaza. Doch der Schaden ist längst angerichtet – ein Muster, das sich
       > wiederholt.
       
   IMG Bild: Gestand ein, dass die Situation in Gaza nun unerträglich geworden sei: der konservative, proisraelische Moderator Piers Morgan
       
       „Bei der Kritik an der israelischen Regierung habe ich mich oft dagegen
       gewehrt, so weit zu gehen wie Sie. Doch von nun an wehre ich mich nicht
       mehr dagegen. Ich denke, wir haben mittlerweile dieselbe Meinung.“ Diese
       Worte fielen vor rund zwei Wochen seitens des britischen Moderators Piers
       Morgan während eines Gesprächs mit dem ebenso bekannten Journalisten Mehdi
       Hasan.
       
       In den vergangenen achtzehn Monaten erreichten die beiden Männer mit ihren
       Sendungen Hunderte Millionen Zuschauer und gaben oftmals auch in Sachen
       Nahost den Ton an – der konservative, proisraelische Morgan auf der einen
       und der kritische, propalästinensische Hasan auf der anderen Seite.
       
       Doch nun [1][ereignete sich eine Zäsur]. Morgan gestand ein, dass die
       Situation vor Ort nun unerträglich geworden sei. Er meinte das wohl ernst,
       denn kurz danach begann er, israelische Offizielle, die auch in der
       Vergangenheit zahlreich in seiner Sendung „Uncensored“ vertreten waren, zu
       grillen. „Ihr tötet jeden Tag Kinder“, sagte er etwa zu Tzipi Hotovely,
       Israels Botschafterin in Großbritannien. Empört entgegnete sie Morgan, dass
       er lediglich [2][„Hamas-Propaganda“] verbreite.
       
       Ein Vorwurf, der bei Morgan – das muss man in diesem Kontext auch erwähnen
       – schon seit Längerem nicht mehr verfängt. Bereits vor seinem großen
       Sinneswandel hatte er im Gegensatz zu vielen anderen Journalisten und
       Medienmachern offizielle Statements des israelischen Militärs immer wieder
       hinterfragt. Hinzu kommt, dass Piers Morgan allein im vergangenen Jahr mehr
       palästinensische Stimmen zu Wort kommen ließ als viele andere –
       einschließlich deutschsprachiger! – Medien zusammen.
       
       Piers Morgan ist nicht der Einzige, der inzwischen bemerkt hat, dass es so
       nicht weitergehen kann. Die israelische Armee benutzt [3][Hunger als
       Kriegswaffe], tötet Zivilisten, Journalisten und Helfer per Knopfdruck
       mit Drohnen und KI und missbraucht Palästinenser als menschliche
       Schutzschilde. Sie vertreibt Menschen, begeht ethnische Säuberung und
       stellt all dies auch noch zur Schau.
       
       Nichts davon ist undokumentiert. Regierungen, Hilfs- und
       Menschenrechtsorganisationen, führende Medienhäuser, die wichtigsten
       Institutionen der Welt – sie alle wissen, was vor sich geht. Renommierte
       israelische Holocaustforscher wie der Historiker Omer Bartov sprechen schon
       seit Monaten [4][von einem Genozid] an der palästinensischen Bevölkerung.
       
       All dies scheint nun auch in den Köpfen jener angekommen zu sein, die sich
       lange uneingeschränkt solidarisch mit Israel zeigten. Sie sitzen in
       Regierungen, Redaktionen oder bei Talkshows und nehmen plötzlich eine
       deutlich kritischere Haltung ein. Da gibt es etwa Markus Lanz, der nun
       sogar [5][fast schon die deutsche Staatsräson infrage stellt] und klare
       Worte zum Leid in Gaza findet.
       
       Dabei saßen in seinem Studio noch vor geraumer Zeit Gäste, die oft ohne
       Widerspruch die Massaker an der palästinensischen Zivilbevölkerung
       relativierten oder gar in den ersten Tagen des Krieges meinten, dass alles,
       was Israel nach dem 7. Oktober tun werde, gerechtfertigt sei. Viele dieser
       vermeintlichen Experten schweigen heute. Doch im Gegensatz zu einigen, die
       bereits früh auf israelische Kriegsverbrechen hinwiesen und die deutsche
       Israelpolitik kritisierten, wurden sie weder gecancelt noch haben [6][sie
       ihre Jobs verloren].
       
       Auch Tagesschau und Co zeigen sich auf einmal deutlich kritischer, nachdem
       sie monatelang Pressestatements der israelischen Armee im Copy-Paste-Stil
       veröffentlichten und kaum palästinensische Stimmen zu Wort kommen ließen.
       Aber: Es kommt zu spät – und ist viel zu wenig.
       
       ## Es geht um westliche Gewalt
       
       Im Grunde genommen geht es dabei weder um Israel noch um Gaza, sondern um
       Machthegemonien, Eurozentrismus und das Ausblenden westlicher Gewaltakte,
       die in vielen Ländern des Globalen Südens zum Alltag gehören. Dies ist und
       war nicht nur in Gaza der Fall, sondern auch in Afghanistan, Jemen, Irak
       oder etwa in Somalia.
       
       Als vor Jahren der Drohnenkrieg der USA in mehreren Staaten Asiens und
       Afrikas tobte, gab es zahlreiche Studien und Recherchen, die
       verdeutlichten, dass sowohl die New York Times als auch die Washington Post
       in ihrer Berichterstattung zum Thema versagt hatten: Unter anderem hatten
       die beiden Flaggschiffe der angelsächsischen Medienwelt mehrfach getötete
       Zivilisten als „Terroristen“ deklariert, ohne diese Fehler im Nachhinein zu
       korrigieren.
       
       Und als die [7][Bundeswehr in Afghanistan] kämpfte und dabei auch gegen
       Zivilisten vorging – wie das grausame Bombardement von Kunduz im September
       2009 verdeutlichte –, hieß es seitens des ZDF-Korrespondenten Uli Gack kurz
       nach dem Massaker, dass man die afghanische Bevölkerung „auf die Linie der
       Bundeswehr“ bringen müsse. Kritik an dem Angriff, der rund 150 Menschen das
       Leben kostete, gab es beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk kaum. Erst Jahre
       später wurde die gesamte Dimension des Kunduz-Skandals bekannt – ein
       Skandal, bei dem sogar Bundeskanzlerin Angela Merkel die Öffentlichkeit
       getäuscht hatte.
       
       Doch die Toten blieben trotzdem tot. Die späte Einsicht half niemandem, und
       von Aufarbeitung in den Medienhäusern fehlt in all diesen Fällen bis heute
       jede Spur. Dies – das zeichnet sich jetzt schon ab – wird wohl auch im Fall
       Gaza so sein. In den Redaktionshäusern müsste es Konsequenzen geben für
       falsche Berichterstattung und das Reproduzieren einseitiger
       Kriegspropaganda. Ansonsten wird wohl das Quäntchen Glaubwürdigkeit, das
       nach dem „War on Terror“ des Westens noch übrig geblieben ist, endgültig zu
       Staub zerfallen.
       
       Als Vorbild könnte tatsächlich Piers Morgan dienen. Letzten Endes hat er
       immerhin seine Fehler öffentlich eingestanden – ein Schritt, der Mut kostet
       und von dem viele Kommentatoren hierzulande noch weit entfernt zu sein
       scheinen. Dabei wäre dieses Eingeständnis wichtig – nicht nur, um mit mehr
       Glaubwürdigkeit weiterzumachen, sondern um Vertrauen zurückzugewinnen.
       
       12 Jun 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.youtube.com/watch?v=aMWrF1jcffE
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   DIR [3] /Opferfest-in-Gaza/!6088712
   DIR [4] https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https%3A%2F%2Fjacobin.de%2Fartikel%2Fomer-bartov-gaza-israel-genozid-holocaust&ved=2ahUKEwihxL3evumNAxVvSfEDHcZEO5MQFnoECCUQAQ&usg=AOvVaw34q5IjX8s9Fr9IoaULuoP-
   DIR [5] https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https%3A//www.youtube.com/watch%3Fv%3DAyaj3PFBvDA&ved=2ahUKEwiT863zvumNAxWVRPEDHc4WC4MQwqsBegQIEBAG&usg=AOvVaw0cEXRNK4uhjNBsgKAR1eVk
   DIR [6] https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https%3A%2F%2Fwww.fr.de%2Fkultur%2Ftv-kino%2Fswr-moderatorin-antisemitismus-vorwurf-helen-fares-rauswurf-instagram-israel-gaza-92995497.html&ved=2ahUKEwiuipufv-mNAxVcSPEDHa_sF9gQFnoECC0QAQ&usg=AOvVaw3Oq0BBQ86AR3G26LC7qkMB
   DIR [7] https://www.google.com/url?sa=t&source=web&rct=j&opi=89978449&url=https%3A%2F%2Ftaz.de%2FDeutsche-Afghanistan-Aufarbeitung%2F!6062163%2F&ved=2ahUKEwiL66nUv-mNAxVTBtsEHQstFH8QFnoECBMQAQ&usg=AOvVaw0KETU8bzdryNLETvKPV9xs
       
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