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       # taz.de -- Videobeweis im Fußball: Verhasster Kölner Keller
       
       > Die Arbeit der Videoassistenten hat sich vom eigentlichen Spiel
       > entkoppelt. Kann die sogenannte Challenge Abhilfe schaffen?
       
   IMG Bild: Nerviges Prozedere: Schiedsrichter Felix Brych steht am Bildschirm für den Videobeweis
       
       Die gerade zu Ende gegangene zweite Runde des DFB-Pokals hat sich zu einer
       Art [1][Oase der Puristen und VAR-Skeptiker] entwickelt, denn selbst bei
       Duellen zwischen Bundesligaklubs muss niemand das in die Luft gemalte
       Bildschirmzeichen der Schiedsrichter fürchten. Der Kölner Keller schweigt.
       
       Es gibt keine Checks, keine Zweifel beim Torjubel, und das Gefühl, dass das
       ungerecht sein könnte, hat kaum jemand, weil die mehr als sieben
       Bundesligajahre mit dem Video Assistant Referee (VAR) die Technik
       vollständig entzaubert haben. „Die Umsetzung des VAR hat mich verloren“,
       sagt beispielsweise Eintracht Frankfurts Vorstandssprecher Axel Hellmann,
       „der Videobeweis befindet sich in einer Sackgasse.“
       
       ## Verwirrung und Russisch-Roulette
       
       Längst beschädigen die vielen Fehler, die immer neuen Auslegungsvorgaben,
       undurchschaubare Eingriffsschwellen und eine selbst nach so vielen Jahren
       noch zunehmende Verwirrung die Attraktivität des Spiels. Der ehemalige
       Weltklasseschiedsrichter Urs Meier zieht einen Vergleich zum Airbag beim
       Auto: „Wenn der bei zehn Unfällen sieben Mal richtig auslöst und drei Mal
       falsch, dann kann ich auch Russisch-Roulette spielen.“ Eine derart
       fehlerhafte Technik „hätte man in der freien Wirtschaft entweder vom Markt
       genommen oder sie wäre so verbessert worden, dass es funktioniert“, sagt
       Meier.
       
       Der Schweizer wundert sich nicht mehr über die Dysfunktionalität der
       Zusammenarbeit zwischen Technik und Mensch, denn so wie der VAR derzeit zur
       Anwendung kommt, erzeugt er ein verzerrtes Bild der Realität. „Es ist
       verdammt schwierig, mit diesen Bildern zu arbeiten“, sagt der Schweizer.
       
       „Die Leute im Kölner Keller sind unglaublich unter Druck, die
       Geschwindigkeit der abgespielten Bilder ist oft verändert, die Distanzen
       lassen sich nur schwer abschätzen, manchmal sind Situationen unvollständig.
       Und wenn du es fünf Mal anschaust, dann denkst du anfangs: Nein, das muss
       man nicht pfeifen, aber man sucht Argumente und dann verfestigt sich
       etwas.“ Die Arbeit der Videoassistenten hat sich vom eigentlichen Spiel
       entkoppelt, der Fehler liegt im System.
       
       Die Videoassistenten verfolgen nicht mehr das Spiel und seine Geschichte,
       was für gute Entscheidungen unerlässlich wäre. Sie stecken fest in der
       Betrachtung und Überprüfung einzelner Szenen. Peter Knäbel, der frühere
       Vorstand des FC Schalke, hat die Tätigkeit der VAR einmal mit der Arbeit
       von Kaufhausdetektiven verglichen, die permanent auf der Suche nach
       Vergehen sind.
       
       ## Permanente Suche nach Kleinigkeiten
       
       Getrieben von der Furcht, irgendetwas zu übersehen. Auch deshalb wird
       neuerdings ernsthaft über eine Revolution nachgedacht: über ein Konzept mit
       dem sogenannten Video Support (VS), das im September bei der U20-WM der
       Frauen ausprobiert wurde, das demnächst in der dritten italienischen Liga
       zum Einsatz kommen soll und damit zu einer ernsthaften Alternative werden
       könnte.
       
       [2][Wie bei den sogenannten Challenges] im Hockey oder American Football
       haben die Trainer die Möglichkeit, zwei bis drei Szenen pro Partie
       überprüfen zu lassen. Gecheckt wird also nur noch nach Aufforderung, und es
       wäre klar, welcher mögliche Regelverstoß untersucht werden soll. „Wenn
       diese permanente Suche nach Kleinigkeiten aufhört, die auf dem Platz und im
       Stadion niemand wahrnimmt, wäre das im Sinne des Fußballs“, sagt Meier.
       
       Sollte ein Trainer eine Situation überprüfen lassen, dann würde das zudem
       ohne Zeitdruck und in aller Ruhe stattfinden – eine enorme Erleichterung.
       „Die Königsdisziplin wäre dann, wenn die Bilder, die der Schiedsrichter
       sich am Monitor anschaut, auch auf der Anzeigetafel zu sehen sind und der
       Schiedsrichter noch erklären würde, aufgrund welcher Argumente jetzt ein
       Elfmeter gegeben wird oder eben nicht“, sagt Meier.
       
       Zudem hätte der VS in Meiers Augen einen entscheidenden Vorteil: Seit der
       Einführung des Videobeweises „übernehmen die Schiedsrichter nicht mehr die
       volle Verantwortung“, sagt er. „Früher sind Schiedsrichter über das
       Hochseil gelaufen und hatten kein Fangnetz. Heute gehen sie über das
       Hochseil und wissen: Wenn wir etwas nicht gesehen haben, dann greift der
       VAR ein.“
       
       Daher fehle „diese absolute Konsequenz“ und auch die Bereitschaft, „die
       letzten fünf Meter durchzusprinten, zu kämpfen, um die beste Sicht auf alle
       Szenen zu haben“. Die Schiedsrichterarbeit ist seit der Einführung des VAR
       von einer Zögerlichkeit geprägt, die sich negativ auf die Leistungen
       auswirkt.
       
       Inzwischen ist man auch beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) offen für
       grundlegende Anpassungen. Jochen Drees, der für den Videobeweis zuständige
       Innovationsleiter im Verband, sagt: „Wenn das Okay von der Fifa käme, dann
       wären wir hier in Deutschland sehr zügig in der Lage, den Video Support
       umzusetzen.“ Wobei Drees vor allzu großen Erwartungen warnt: „Die Challenge
       ist kein Allheilmittel.“
       
       Es gäbe zwar weniger Unterbrechungen, eine größere Transparenz, und auch
       kleinere Ligen wie die Frauen-Bundesliga könnten teilnehmen, weil die
       Unparteiischen die Szenen selber am Spielfeldrand anschauen könnten und
       keine Kollegen im Kölner Keller zu Rate ziehen müssten.
       
       Aber Fehler von Menschen würden weiterhin passieren, und ein anderes großes
       Ärgernis bliebe ebenfalls: Die Zuschauer im Stadion, deren Jubel durch den
       VAR fast immer von einem Gefühl des Zweifels begleitet ist, weil jederzeit
       eine Überprüfung droht, müssten sich auch mit Video Support vor einer
       Korrektur der ursprünglichen Entscheidung fürchten. Denn die
       Detektivarbeit, von der der Kölner Keller befreit wäre, würde dann nach
       jedem Tor auf der Trainerbank stattfinden. In der Hoffnung, irgendeinen
       Ansatz für eine Challenge zu finden.
       
       30 Oct 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.sportschau.de/fussball/dfbpokal/ohne-var-ist-anscheinend-auch-bloed,videobeweis-118.html
   DIR [2] https://www.zdf.de/nachrichten/sport/challenge-videobeweis-fussball-100.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Daniel Theweleit
       
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