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       # taz.de -- Vier Hymnen auf die Wassermelone: Das Knacken, ein Seufzen
       
       > Im Winter ist da nur Sehnsucht. Im Sommer klopft man leise an, lauscht,
       > nimmt die Richtige nach Hause. Was gibt es Schöneres als Wassermelonen?
       
   IMG Bild: Ein wunderbares und wandelbares Obst: die Wassermelone
       
       ## Versunken in der Melonenwolke
       
       Wie verführerisch erschien mir als Kind die Vorstellung, eine Wassermelone
       in geviertelten Scheiben zu verzehren. In die Mitte hineinzubeißen, den
       klebrigen Saft über Mundwinkel und Handgelenke hinunterlaufen zu lassen, zu
       spüren, wie er auf gebräunte Knie tropft. Im Sommer aßen wir jeden Tag zu
       Hause Wassermelonenstückchen und jedes Wochenende im Park, nachdem die
       Grillkohle abgekühlt war.
       
       Doch wie die meisten anatolischen Eltern zerteilte meine Mutter die
       Wassermelone stets in kleine Stücke. Damit die T-Shirts sauber und keine
       halb zerkauten Ränder übrig blieben. Eine Wassermelone ihrer kurvigen
       Pracht gebührend zu schneiden, ist dabei eine Kunst für sich. Mit dem
       Messer gilt es, jeden Winkel auszuhöhlen, kein Quadratzentimeter Frucht
       darf verloren gehen.
       
       Die Parks meiner Kindheit wurden von einem kleinen Balkon in Kreuzberg
       abgelöst. Und genau wie Lebensräume sich ändern, hat auch meine
       Wassermelone eine neue Gestalt angenommen, sogar einen neuen
       Aggregatzustand. Vor einigen Wochen habe ich mir zum ersten Mal ein Liquid
       mit Wassermelonengeschmack für meine E-Zigarette gekauft. Seitdem umgibt
       mich eine süße Melonenwolke.
       
       Wenn ich die Augen schließe, sehe ich eine Miniatur meiner selbst immer
       tiefer in dem saftigen, pinken Fleisch der Frucht versinken, einen kleinen
       schwarzen Kern umarmen und mit ihm eins werden.
       
       Seyda Kurt 
       
       ## Anklopfen wie an der Haustür von Freunden
       
       Die Sommer in Schanghai sind heiß und schwül, das war schon immer so und
       wird für immer so bleiben. An der Uferpromenade des Huangpu legen paffende
       Männer die kugeligen, schwitzenden Bäuche frei. Raus geht nur, wer
       rausgehen muss. Glücklich, wer mit den nackten Fußsohlen über die kühlen
       Fliesen im Wohnzimmer streichen kann. Noch glücklicher nur, wer eine ganze
       halbe Wassermelone auslöffelt.
       
       Ein Rikschafahrer dreht zwischen den Wohnblöcken seine Runden, ruft und
       schwingt eine Weihnachtsmannglocke, auf der Ladefläche ein Berg aus
       Wassermelonen, auf Chinesisch xigua, 西瓜: Melone aus dem Westen. Bald eilen
       Kinder und Tantchen aus den Mehrfamilienhäusern, dann eine Symphonie aus
       Klopfen, Streichen, Handeln, Seufzen. Eine gute Wassermelone ist etwas gelb
       an den Enden. Und sie hat einen Klang, für den es kein Wort gibt, aber wenn
       doch, dann läge es irgendwo zwischen voll, dumpf, hohl und schnalzig.
       
       In Hoffnung auf diesen Klang pressen Kinder und Tantchen ihre Ohren an die
       kühle, glatte Wassermelonenschale und klopfen mit der Faust an, bestimmt,
       aber höflich, wie an der Haustür von Freunden. Bald sind zwölf Melonen
       gefunden. Zwölfmal mindestens sechs Kilo tragen starke Kinder- und
       Tantchenarme zurück in die kühle Wohnung. Dort rollen die Melonen über die
       Fliesen und unter das Ehebett. Und immer dann, wenn ein Gast vorbeischaut,
       fällt ein scharfes Beil auf eine Wassermelone herab, muss nicht weiter als
       ein paar Zentimeter durch die Schale, bis das rote Glück bereitwillig und
       mit einem reißenden Krachen auf der Tischplatte liegt.
       
       Glücklich, wer auf niedrigen Höckerchen sitzt, mit Freunden schnackt und
       Wassermelonenkerne in die Faust spuckt. Noch glücklicher nur, wer eine
       ganze halbe Wassermelone auslöffelt. Allein.
       
       Lin Hierse 
       
       ## Nur Spießer spucken
       
       Nun gibt es ja Menschen, die pulen diese supersoften, superschwarzen,
       superschönen Kerne der Wassermelone penibelst aus den Fruchtstücken, bevor
       sie sich dem saftigen Rot widmen. Oder sie kauen sich zunächst nur
       vorsichtig durchs Fruchtfleisch, sammeln die Kerne geschickt neben oder
       unter der Zunge, um sie dann auszuspucken. Wenn Sie zu dieser Sorte Mensch
       gehören, dann sind Sie ein Spießer, meine Meinung. Dann sind Sie jedenfalls
       kein Genießer. Dann sind Sie vielleicht sogar in Ihrer Kindheit hängen
       geblieben, gutgläubig den Eltern folgend, die damals warnten vor den
       Kernen, die sich im Magen einnisten, zu Verstopfungen führen und überhaupt
       ganz gefährlich sein sollen.
       
       Sind sie nicht. Die Kerne kann man essen, sie flutschen ja auch so schön
       runter, so glatt und klein und angenehm geformt. Sollten Sie Anhänger von
       Superfood-Trends sein, können Sie die Kerne auch zerkauen, gerne mindestens
       30-mal, raten Experten von fitforfun.de und bildderfrau.de. Denn nur so
       entfalten die „Vitaminbomben“ ihre „wahre Kraft“ aus Eisen, Magnesium und
       so weiter.
       
       Man kann die Kerne auch sammeln. Sie mahlen, rösten, backen und allerlei
       köstliche Dinge daraus machen. Oder aber man isst sie halt einfach mit. Aus
       Faulheit, Freude und Faszination.
       
       Paul Wrusch 
       
       ## Links und rechts küsst sie die Wangen
       
       Mein Sohn liebt Melone, und ich liebe ihn. Also nehme ich immer, wenn wir
       ins Freibad gehen, eine Wassermelone mit. Am Eingang fragen die
       Security-Schränke, ob wir ein Messer dabeihätten. Ich sage: nein. Dann
       dürfen wir weiter. Ich glaube, sie wissen, dass wir die Melone nicht mit
       unseren Badehosen aufschneiden.
       
       Nach dem Schwimmen, also dem Baden, also dem Plantschen, gehen wir zu
       unserer Decke. Melone, sagt mein Sohn, und ich schneide. Es knackt beim
       Öffnen, als wäre die Melone ein Glas mit Vakuumverschluss, nein, es ist
       schöner: Das Knacken ist ein Seufzen, als hätte die Melone die ganze Zeit
       unter Druck gestanden, als müssten sich das rote Wasser und das süße
       Fleisch dringend einen Weg nach außen bahnen.
       
       Meine Freundin würde die Melone jetzt in kleine, handliche Stücke teilen.
       Ich mag es lieber, die Melone in Sicheln zu schneiden. Dann küsst die
       Melone beim Essen noch links und rechts die Wangen. Sobald das erste Stück
       von der halben Melone abfällt, greift mein Sohn zu. Er isst die Melone
       nicht, er inhaliert sie. Weil man Melone kaum kauen muss, schiebt er die
       Melone mit seinen Fingern nach und nach. Er ist ein Melonenstaubsauger.
       
       Man kann Melone nicht essen, ohne zu tropfen. Deswegen ist sie das
       zweitbeste Schwimmbadessen der Welt (nach Pommes): Man isst sie am besten
       nackt. Dann läuft der Melonensaft über die Brust, aber das macht nichts.
       Noch eine Runde ins Becken?
       
       Kersten Augustin
       
       23 Jul 2019
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Kersten Augustin
   DIR Seyda Kurt
   DIR Paul Wrusch
   DIR Lin Hierse
       
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