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       # taz.de -- Völkermord an Armeniern: Biden benennt das Grauen
       
       > Erstmals erkennt ein US-Präsident den Völkermord an. Die Türkei bestellt
       > den Botschafter ein. Trotzdem stehen die Zeichen auf Verständigung.
       
   IMG Bild: Der 106. Jahrestag: Auch in New York erinnerten am 24. April Menschen an das Massaker
       
       Istanbul taz | Lange haben Armenier weltweit auf diesen Schritt gewartet,
       jetzt ist er erfolgt. Zum 106. Jahrestag des Beginns des Völkermordes an
       den Armeniern im Osmanischen Reich 1915, hat US-Präsident Joe Biden eine
       Erklärung veröffentlicht, in der er den Völkermord an den Armeniern als
       solchen benennt und seine Aussage damit begründet, er wolle dazu beitragen,
       dass sich solche Ereignisse niemals wiederholen.
       
       „Das amerikanische Volk ehrt all jene Armenier, die in dem Völkermord, der
       heute vor 106 Jahren begann, umgekommen sind,“ heißt es in einer am Samstag
       vom Weißen Haus veröffentlichten Erklärung. „Anderthalb Millionen Armenier
       wurden in einer Auslöschungskampagne deportiert, massakriert, oder kamen in
       Todesmärschen um (…) Wir erinnern uns, damit wir auf ewig wachsam gegen den
       zersetzenden Einfluss des Hasses in all seinen Formen bleiben.“
       
       Jahrzehntelang haben US-Präsidenten diesen Schritt gescheut, entweder weil
       sie selbst Zweifel am Völkermord hatten, oder weil sie es sich mit dem
       strategisch wichtigen Nato-Partner Türkei nicht verderben wollten. Das galt
       insbesondere im Kalten Krieg, wo die Türkei als Stützpfeiler der Nato an
       der Südost-Grenze zu Sowjetunion gebraucht wurde, aber auch danach scheuten
       sowohl die beiden Bush-Präsidenten wie auch Bill Clinton und Barack Obama
       davor zurück.
       
       [1][Donald Trump wollte seinen „Freund“ Recep Tayyip Erdoğan] wegen einer
       solchen Frage erst recht nicht vergraulen, und so blieb es nun Biden
       überlassen, bei diesem hochemotionalen Thema endlich für Klarheit zu sorgen
       – ein Schritt, den fast alle europäischen Regierungen und selbst Russland
       bereits gegangen sind. Der deutsche Bundestag verabschiedete 2016 eine
       entsprechende Resolution.
       
       Die Mitteilung, dass er den Völkermord offiziell anerkennen würde, gehörte
       zu den für Erdoğan unerfreulichen Neuigkeiten, die ihm Biden bei ihrem
       ersten Telefongespräch seit dem Amtsantritt des neuen US-Präsidenten am
       Freitag überbrachte. Der von Erdoğan seit langem ersehnte Anruf begann für
       den türkischen Präsidenten damit gleich mit einem Nackenschlag.
       
       ## Türkei protestiert reflexartig
       
       Erdoğan weiß natürlich, dass Biden ihm gegenüber wesentlich kritischer
       eingestellt ist, als es Trump war. Biden hatte ihn vor der Wahl bereits
       öffentlich als Autokrat bezeichnet und in einem Gespräch mit der New York
       Times im Januar 2020 gesagt, man müsse die türkische Opposition
       unterstützen.
       
       Doch dass Biden gleich zu Beginn seiner Amtszeit dieses hochsymbolische
       Thema aufgegriffen hat, sorgt in der türkischen Regierung für Bestürzung.
       Nach außen läuft alles wie immer, wenn eine ausländische Regierung sich zu
       dem Völkermord an den Armeniern positioniert. Außenminister Mevlüt
       Cavusoglu protestierte heftig und wies Bidens Anerkennung der langjährigen
       armenischen Forderung als ungerecht und nicht den Fakten entsprechend
       zurück. Noch am Samstagabend wurde der US-Botschafter in Ankara, David
       Satterfield, ins Außenamt einbestellt, um sich den förmlichen Protest
       anzuhören.
       
       Erdoğan, der wie schon seit Jahren, auch am 106. [2][Jahrestag des Beginns
       des Völkermordes] dem armenischen Patriarchen in Istanbul sein Beileid
       aussprach, gleichzeitig aber auch auf die vielen türkischen Opfer im Ersten
       Weltkrieg hinwies, verbat sich eine Einmischung und wiederholte die
       türkische Forderung, man solle diese Frage den Historikern überlassen.
       
       Doch die Proteste sind nur noch eine Pflichtübung für die nationalistischen
       Anhänger Erdoğans. Konkrete Reaktionen werden vermutlich nicht erfolgen,
       denn der türkische Präsident kann es sich zur Zeit nicht leisten, sich
       Biden ernsthaft zum Feind zu machen. Seit Wochen sendet er Signale des
       Entgegenkommens nach Washington. Das gilt für den [3][Streit um die
       Gasförderung im Mittelmeer], seine Angebote zur Wiederannäherung an Israel
       und Ägypten und nicht zuletzt seine eindeutige Parteinahme für die
       [4][Ukraine im Konflikt mit Russland], die soweit geht, dass Erdoğan den
       ukrainischen Präsidenten Selenski in Istanbul empfing und der Ukraine jetzt
       die gefürchteten bewaffneten Drohnen aus türkischer Produktion liefert.
       
       Entsprechend empört ist der russische Präsident Wladimir Putin, für den die
       Unterstützung der Ukraine eine rote Linie ist. Erdoğan hofft jetzt auf ein
       Treffen mit Biden am Rande des Nato-Gipfels im Juni.
       
       ## Annäherung zwischen Armenien und der Türkei
       
       Doch damit der symbolische Schritt, den Biden nun getan hat, auch
       praktische Konsequenzen nach sich zieht, müssten sich die USA im Kaukasus
       wieder stärker engagieren. Mit Unterstützung der Obama-Administration
       hatten die Türkei und Armenien 2009 schon einmal einen Anlauf zu einer
       Annäherung unternommen, die unter anderem die Öffnung der Grenze zwischen
       den beiden Nachbarstaaten beinhalten sollte, die die Türkei nach dem Krieg
       um Bergkarabach zwischen Aserbaidschan und Armenien 1994 aus Solidarität
       mit Aserbaidschan geschlossen hatte.
       
       Die Annäherung 2009 scheiterte dann auch daran, dass es in Bergkarabach aus
       aserbaidschanischer Sicht keine Fortschritte gab. Nach dem jüngsten
       [5][Krieg zwischen Armenien und Aserbaidschan im Herbst 2020], kann sich
       Erdoğan eine Grenzöffnung nun wieder vorstellen – wenn die armenische
       Regierung „sich konstruktiv“ verhält und zu Gesprächen bereit ist.
       
       25 Apr 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Tuerkischer-Praesident-im-Weissen-Haus/!5642163
   DIR [2] /Tuerkei-und-Voelkermord-an-den-Armeniern/!5680917
   DIR [3] /Tuerkei-entdeckt-Erdgasfeld/!5708949
   DIR [4] /Politologin-ueber-Putins-Ukrainepolitik/!5763177
   DIR [5] /Von-Armenien-nach-Bergkarabach/!5742895
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jürgen Gottschlich
       
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