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       # taz.de -- Vom Leben einer 100-Jährigen: Wie eine tapfere Maschine
       
       > „Omama“, die Großmutter unseres Autoren, lebt weiter, immer weiter. Nun
       > ist sie 100 Jahre alt geworden. Doch wie erstrebenswert ist es, so alt zu
       > sein?
       
   IMG Bild: Bad Wildbad im Schwarzwald, Sommer 1963: Omama mit 44 Jahren
       
       Wenn ich in der Zeitung von Menschen lese, die irgendeinen Altersrekord
       aufgestellt haben oder mit 117 Jahren in einer nordjapanischen oder
       süditalienischen Provinz gestorben sind, wird immer eine Formel für langes
       Leben mitgeliefert: Jeden Tag einen Kräuterschnaps, drei Zigaretten, ein
       rohes Ei. Nie Knoblauch. Immer Knoblauch. Wie so ein Rezept.
       
       Bei Omama würde mir nichts Griffiges einfallen. Sie hat viele Jahrzehnte
       lang Patiencen gelegt. So lange sie noch konnte, hat sie sich jeden Abend
       40-mal auf die Zehenspitzen gestellt. Sie trinkt bis heute jeden Nachmittag
       Kaffee mit Milch und isst gern und oft eine Kugel Vanilleeis.
       
       Omama – die Mutter meiner Mutter – ist seit Ende August hundert Jahre alt.
       Hundert. Jahre. 2017 soll es in Deutschland 16.500 Menschen gegeben haben,
       die hundert oder älter waren, inzwischen dürften es ein paar mehr sein. Sie
       ist jetzt eine von ihnen.
       
       ## Auf Eleganz legte sie immer viel Wert
       
       An ihrem 100. Geburtstag trägt Omama eine schneeweiße Hose, eine
       weiß-marineblau gestreifte Bluse und eine hellblaue Strickjacke. Dazu
       Perlenohrringe. Elegant sieht sie aus, darauf legte sie immer viel Wert.
       Den Geburtstag verbringt sie die meiste Zeit in ihrem Rollstuhl, den man
       bequem nach hinten kippen kann, und döst. Ihr Mund ist offen, ein Gebiss
       trägt sie seit einiger Zeit nicht mehr; es verrutscht doch nur und macht
       das Atmen schwer.
       
       Den Abgesandten des Bürgermeisters, der sich angekündigt hatte, haben wir
       ausgeladen. Gekommen sind drei von Omamas Kindern, zwei Enkel und ihr
       einziges Urenkelkind, 98 Jahre jünger als sie. Dazu eine ältere Dame, die
       sich ehrenamtlich um Omama kümmert, und zwei Überraschungsgäste: Vormittags
       ein anderer Bewohner aus dem Altenheim, der zufällig auftaucht und dem wir
       ein Glas Orangensaft in die Hand drücken. Leider macht er sich nach einigen
       Minuten in die Hose, was alle merken, außer er selbst. Und nachmittags der
       Pfarrer der St.-Marien-Kirche, in der Omama getauft und getraut wurde und
       deren Gemeinde sie nun wieder angehört. Vorher getroffen hatte er Omama
       noch nie.
       
       Als Lotte Erika Matthaei am 29. August 1918 in Osnabrück auf die Welt
       kommt, das zweite Kind eines Bankangestellten und der Tochter eines
       Zigarrenfabrikanten, ist der Erste Weltkrieg noch nicht vorbei. Bei der
       Machtergreifung der NSDAP 1933 ist sie 14 Jahre alt, zu Beginn des Zweiten
       Weltkriegs 21 und kurze Zeit später verheiratet. 1937 hatte Rudolf sie erst
       zum Tanz eingeladen und sie dann gefragt, ob sie sich vorstellen könnte,
       eine „Landdoktorsche“ zu werden. Sie erbat sich ein wenig Bedenkzeit,
       wollte erst ihr Hauswirtschaftsabitur machen. Dann konnte sie.
       
       Mit Rudolf bekommt sie vier Kinder. In Wissingen, östlich von Osnabrück,
       bauen die beiden ein Haus, dort arbeitet Omama in der Praxis mit und führt
       das Regiment im Haushalt. Damals hatte man noch Personal, die Geschichten
       über die „Mädchen“, die im Bedienstetenzimmer wohnten, sind lange Zeit
       fester Bestandteil jedes Großelternbesuchs.
       
       Omama und Opapa sind gemeinsam im Golf- und im Bridgeklub, machen Urlaube
       nach England oder Spanien, legen jeden Tag eine Zankpatience, feiern die
       Goldene, die Diamantene, die Eiserne und die Gnadenhochzeit, ziehen 2007
       gemeinsam ins Altenheim in Osnabrück. Nur wenige Straßen davon entfernt ist
       Omama als Kind aufgewachsen, an jeder Ecke warten Erinnerungen.
       
       Immer wird es etwas weniger 
       
       2010 stirbt Opapa, mit 98 Jahren. Damals ist Omama noch etwas zu agil für
       „Haus C“ im Altenheim, das für die Pflegefälle vorgesehen ist. Doch das
       ändert sich. „Es ist schon wieder etwas weniger geworden“, berichtet meine
       Mutter immer, wenn sie wieder von Oldenburg aus für einen Tag nach
       Osnabrück gefahren war. Das Sehen war schon lange nicht mehr gut bei Omama,
       eine Makulardegeneration trübt ihr Gesichtsfeld. Hören ist auch schwierig.
       Der Aktionsradius verengt sich auf die zwei, drei Straßen rund ums
       Altenheim. Sie geht immer früher ins Bett, weil der Pflegerhythmus es so
       vorsieht.
       
       Am stärksten aber lässt ihr Gedächtnis nach. Irgendwann weiß man nicht
       mehr, ob sich Omama am nächsten Tag noch an den Besuch erinnert. Irgendwann
       weiß man dann, dass es nicht so ist.
       
       Die Gesprächsinhalte wandeln sich. Erst sind sie noch ein Austausch über
       den Mikrokosmos Altersheim, Arztbesuche, Ärger mit den Pflegerinnen. Später
       dann Erlebnisse aus Omamas Kindheit, ihr Auftritt als Grundschülerin bei
       einer Inszenierung der „Puppenfee“, die Zeit in Norwegen, wo Omama zwischen
       Abitur und Hochzeit einen Sommer verbrachte, eines der aufregendsten
       Ereignisse ihres Lebens. Am Ende ist es nur noch ein Abrufen und
       Vergegenwärtigen der Familienverhältnisse. „Weißt du, wer ich bin? … Der
       Sohn von Ulla … Genau, Michael … aus Berlin.“
       
       Es gibt im Altenheim einen grausam benannten Ort: die „Oase“. Dort sammelt
       das Pflegepersonal die Menschen, die fast nichts mehr können, damit sie
       nicht allein in ihren Wohnungen herumsitzen, und um sie besser im Blick zu
       haben. Dort vorbeizulaufen fand ich immer etwas unheimlich. Inzwischen ist
       das der Ort, an dem Omama ihre Tage verbringt.
       
       ## Was bleibt, sind taktile Reize
       
       Seit einem leichten Schlaganfall zu Beginn des Jahres redet sie nun
       praktisch nichts mehr. Wie viel sie noch hört und sieht, weiß niemand. Was
       bleibt, sind taktile Reize. Man kann ihre Hand halten oder ihr über die
       Wange streicheln. Ich bin wirklich nicht der Anfasstyp, aber es geht
       leidlich gut.
       
       Überhaupt hatte ich keine besonders ausgeprägte Beziehung zu Omama, nicht
       diese spezielle und gern romantisierte Enkel-Großeltern-Verschworenheit.
       Als Kind war ich regelmäßig bei ihr und Opapa, weil man das halt so macht,
       damals kamen mir die beiden eher etwas einfach gestrickt vor (was, wie ich
       inzwischen weiß, in Wirklichkeit am Kontrast zu meinem
       hochakademisch-verklemmten 68er Elternhaus liegt): Es lief öfter mal der
       Fernseher, Opapa liebte derbe Sprüche, und Omama machte so Oma-Sachen wie
       Essen kochen und reden, denn Ruhe ertrug sie schwer.
       
       Omama war eine ganz eigene Mischung aus elitebewusst und bodenständig, sie
       war gleichzeitig warmherzig und streng, und was man davon abbekam, war bei
       Weitem nicht fair verteilt. Ich, „unser ältester Enkel“, hatte Glück in
       dieser Zuwendungslotterie.
       
       Erst als Erwachsener, als mein nostalgischer Wesenszug stärker durchkam,
       wurden mir die Besuche bei Omama und Opapa wichtiger. Seit 15 Jahren sind
       meine Mutter und ich fast jedes Weihnachten dort – denn man weiß ja nie, ob
       es das letzte Mal sein würde.
       
       ## Vielleicht ein Wort
       
       Am 100. Geburtstag selbst bin ich gestresst. Ich würde gern Kontakt zu
       Omama aufnehmen, schauen, ob sie auf mich reagiert, vielleicht mit viel
       Mühe ein Wort herausbringt, wie beim letzten Besuch. Aber unter den Augen
       meiner Mutter und meiner Tante traue ich mich das nicht, sie würden es
       sofort kommentieren, weil in unserer Familie immer alles kommentiert wird.
       
       Wirklich bei Omama, mit Omama bin ich nur mittags, beim Essen in der Oase.
       Es gibt pürierte Linsen, Kartoffelbrei und noch irgendeine dritte Sorte
       Matsch, und ich versuche, ihr das Mittagessen anzureichen: Löffel bis an
       die Oberlippe führen und etwas stupsen, dann öffnet Omama im besten Fall
       den Mund. Ich kriege es nicht wirklich hin, irgendwann kommt eine Pflegerin
       mit osteuropäischem Akzent, nimmt Omamas Gesicht in beide Hände und spricht
       sie deutlich lauter an. Danach sind ihre Augen zum ersten Mal wirklich
       offen. Nun kann sie essen, und im Radio läuft Bryan Adams, „Summer of ’69“,
       selbst da hatte Omama schon mehr als die Hälfte ihres Lebens hinter sich.
       
       Immer, wenn in den vergangenen Jahren ein Prominenter gestorben ist, hatte
       ich den gleichen Satz im Kopf. „Jetzt hat Omama also auch noch David Bowie
       überlebt.“ Jetzt hat sie auch noch Prince überlebt, Westerwelle überlebt,
       Hildegard Hamm-Brücher, John McCain, Hans Beimer, Aretha Franklin überlebt.
       Es ist doch bescheuert: So viele Menschen kämpfen verzweifelt gegen
       Krankheiten, ringen dem Tod noch ein paar Monate ab und sterben mit 40, 50,
       60 Jahren. Omama lebt einfach immer weiter, wie eine tapfere Maschine, die
       ihren Ausknopf nicht kennt.
       
       ## Der Tod liegt nicht in ihren Händen
       
       Als Omama noch gesprochen hat, hatte sie zuletzt öfter den Wunsch geäußert,
       zu sterben: „Eigentlich könnte ich jetzt auch mal abhauen“, sagte sie dann.
       Aber Sterbehilfe wäre niemals infrage gekommen. Omama ist nicht übertrieben
       fromm, aber es war eben klar, dass ihr Tod nicht in ihren Händen liegen
       würde. An dieser Art von Schicksalsergebenheit mag es auch liegen, dass sie
       bis heute das Essen nicht eingestellt hat.
       
       Und dabei hat es Omama ja noch ganz gut erwischt: Sie war lange mit ihrem
       Mann zusammen, ihre Kinder leben noch, sie hatte bisher keine größeren
       Schmerzen. Selbst in ihre Demenz ist sie so sanft abgeglitten, dass sie es
       gar nicht richtig mitbekommen hat. Es geht ihr nicht wie dem längst
       verstorbenen Flurnachbarn im Altenheim, der jahrelang verzweifelt nach
       „Gerda“ rief.
       
       Nach dem Essen wird Omama zum Mittagsschlaf gebracht, wir gehen in die
       Innenstadt und kaufen einen Steiff-Hasen, ein Tier aus der Kinderedition:
       mit Knopf im Ohr, aber nicht so unbeweglich, sondern extrakuschelig. So
       einen hatte Omama zu Ostern von meiner Tante bekommen, damit sie was zum
       Anfassen hat, aber dann war er im Altersheim verloren gegangen.
       
       Der kleine Steiff-Hase ist Omamas einziges Geschenk an ihrem 100.
       Geburtstag. Und eine Kastanie habe ich ihr heimlich in die Hand gedrückt,
       weil die sich so gut anfühlt. Aber ich weiß nicht, ob Omama das gemerkt
       hat.
       
       21 Sep 2018
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Michael Brake
       
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