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       # taz.de -- Vom goldenen Zeitalter des Pornofilms: Als die Liebe noch frei war
       
       > Der französische Erotikfilm der 70er-Jahre lebte von einem fantastischen,
       > fast surrealen Humor. Im Porno-Internet von heute ist davon nichts übrig.
       
   IMG Bild: Branchenporträt: Mit „Boogie Nights“ hat Regisseur P. T. Anderson dem Pornofilm der späten 70er ein grandioses Denkmal gesetzt – auch wenn sein Film in den USA und nicht in Frankreich spielt.
       
       Was den Markenkern der Porno-Darstellerin Lisa Ann ausmacht, bringt ein
       Video auf den Punkt, in dem sie sich widerstandslos von drei
       Gefängnisinsassen überwältigen lässt. Zusammengefasst: riesige Brüste,
       Doppelpenetration, also von zwei Penissen gleichzeitig, möglichst hart,
       Gruppensex. Noch Fragen?
       
       Im Milf-Genre ist Lisa Ann mehrfach ausgezeichnet, so lehrt Wikipedia –
       also als „Mother I’d Like to Fuck“. Im Ranking der beliebtesten
       Darstellerinnen bei Pornhub, Platz 35 der beliebtesten Internetseiten in
       Deutschland hält sich die US-Amerikanerin recht souverän auf Rang eins mit
       mehr als 37 Millionen Views.
       
       Brigitte Lahaie steht in dieser Pornhub-Liste auf Rang 7.804, Tendenz
       fallend, bei Youporn ist sie quasi kaum existent. Es liegen nicht nur 7.803
       Plätze zwischen Lahaie und Lisa Ann, sondern auch etwa 35 Jahre. Denn so
       lange liegt ihre Zeit als blonder Star des französischen Pornofilms zurück.
       Im Juni 1980 beendete sie diese Karriere, die sie 1976 begann.
       
       Es waren die Jahre, die als das „goldene Zeitalter des französischen
       Pornofilms“ in die Geschichte eingehen sollten. Im Oktober wurdeLahaie 60
       Jahre alt. Ihr Beispiel zeigt, wie sehr sich die Bilder und Erzählungen der
       Pornografie verändert haben und woran der Mainstream-Porno heute krankt.
       
       ## „Noch recht jungfräulich“
       
       Am 12. Oktober 1955 im Norden Frankreichs als Brigitte Van Meerhaeghe
       geboren, arbeitete Lahaie nach ihrem Abitur als Schuhverkäuferin in Paris.
       Sie wollte Model werden, doch man lehnte sie ab, weil sie – wie sie selbst
       sagt – zu große Brüste hatte. Durch eine Anzeige – gesucht wurden große
       Brüste – geriet sie 1976 ins Pornofilmgeschäft, „noch recht jungfräulich“,
       so Lahaie, „ich hatte vorher gerade einmal zwei Liebhaber.“
       
       Später wechselte sie in den etwas seriöseren Schauspielberuf, spielte in
       Horror- und Gruselfilmen mit und hatte 1990 eine lesbische Bettszene mit
       Uma Thurman in Philip Kaufmans „Henry & June“. Seit 2001 moderiert sie im
       Radio – angeblich für 630.000 Hörer am Tag.Im Sommer war sie zu Gast in
       einer Fernsehshow und schenkte der Moderatorin ein Sexspielzeug, einen
       „Vibromasseur“.
       
       Brigitte Lahaie klärt die Franzosen auf, damals wie heute, über ihre Körper
       und ihr Begehren, und das auf eine sehr leichte, humorvolle Art und Weise,
       zum Beispiel in ihrem Kamasutra-Buch (2014). Darin stellt sie alle
       erdenklichen Positionen vor, von der Missionarsstellung über den Frosch,
       den Baum und die Schaukel bis zum Brunnen und dem Akkordeon, geeignet für
       Anfänger wie Experten, wunderbar illustriert vom Karikaturisten Philippe
       Tastet.
       
       Mehr als vierzig Jahre nach der sogenannten sexuellen Befreiung scheint
       gerade dieses Buch relevant und wichtig, in Frankreich, wo konservative
       Kräfte seit Jahren gegen die Homo-Ehe mobilisieren, wie in Deutschland, wo
       Eltern gegen die sexuelle Aufklärung im Lehrplan baden-württembergischer
       Gymnasien protestieren.
       
       ## Kostenlos gibt‘s nur Männerdominanz
       
       Nicht nur deswegen braucht es eine Brigitte Lahaie, auch wegen der
       Pornografie im Netz, mit der vor allem junge Männer selbstverständlich
       aufwachsen. Es ist nicht so, dass diese leicht zugänglichen, kostenlos
       verfügbaren Filmchen immer nur Männerdominanz zelebrieren und Frauen zu
       Objekten degradieren würden, keineswegs, die meisten Darstellerinnen
       verstehen sich zu Recht als starke, selbstbestimmte Subjekte. Das Problem
       ist ein anderes: Die Clips mögen hart und explizit sein – sie bleiben prüde
       und eindimensional, weil es ihnen an Fantasie fehlt.
       
       Fast ausnahmslos alles, was diese Industrie hervorbringt, erschöpft sich in
       den immer gleichen Ritualen und Choreografien, als folgten die Regisseure
       sklavisch einem Handbuch, das vermutlich „Porn for Dummies“ heißt. Auf
       Pussy Licking und Blow Job folgen Cowgirl, Reverse Cowgirl, Doggystyle und
       zum Schluss Cumshot in Variationen dieses Musters: Die Frau kniet mit
       geöffnetem Mund nieder vor dem Mann und erwartet sein Ejakulat so
       sehnsuchtsvoll, als handelte es sich um ambrosischen Nektar. Er bespritzt
       sie sodann großzügig und zementiert damit die Ordnung der Dinge, so
       zuverlässig wie der 20-Uhr-Gong der „Tagesschau“.
       
       Man möchte den Rappern von K.I.Z. zustimmen, wenn sie im Titelsong ihres
       neuen Albums „Hurra, die Welt geht unter“ einfordern, Sex zu haben, wie sie
       wollen – „und nicht, wie die Kirche oder Pornos es uns erzählen“.
       Tatsächlich scheint der amerikanische Porno-Kosmos einen ähnlich
       normierenden Einfluss auf unsere Körper und Begehren zu haben wie einst die
       katholische Kirche. Beide, der Vatikan wie das kalifornische San Fernando
       Valley, machen aus dem Liebesspiel eine ziemlich ernste Angelegenheit.
       
       ## Zauberer und Rumtreiber
       
       Wie anders, wie fremd, wie erfrischend wirken die Bilder aus den 70ern, als
       sich die Sexualität und mit ihr auch der Pornofilm in Frankreich zu
       entfalten begann. Schon die Orte, die den Filmen als Setting dienten:
       Zirkusmanegen, Pferdeställe, Theaterbühnen, Taxirückbänke mit Blick auf
       Paris, stilvoll eingerichtete Appartements und Landhäuser. Zum aufwendig
       kostümierten Personal zählten neben gelangweilten Gattinnen und
       zwielichtigen Gangstern auch Zauberer, Landgutbesitzer, Dienerinnen und
       Diener in Livree, Artisten, Rumtreiber, und nicht zuletzt: sprechende
       Vulven.
       
       Die Filme lebten zuweilen von einem fantastischen, fast surrealen Humor,
       wie man ihn sonst nur aus Nicholson Bakers Romanen wie „House of Holes“
       kennt. In einem Klassiker von 1976 trifft sich eine Gruppe junger Frauen
       zum Abendessen, es könnte eine Tupperparty sein, stattdessen führt die Dame
       des Hauses Arnold im Bademantel vor, dessen Miene wie eingefroren ist: Er
       sei beim Masturbieren erwischt worden und stehe seither unter Schock, so
       lernen die Frauen, daher auch die permanente Erektion, die also bestaunt
       und gewürdigt wird, ehe die Dame des Hauses Arnold fortschickt: „Und jetzt
       zu Tisch!“
       
       „Wir nennen diese Jahre das goldene Zeitalter“, erklärt Francis Mischkind,
       einer der wichtigsten damaligen Erotikfilmproduzenten, „weil die Brüste der
       Mädchen noch natürlich waren, nicht aus Silikon, ebenso natürlich war ihre
       Schambehaarung.“ Mischkind sagt das in der Doku “L’Age d’Or du X“ (2006)
       von Nicolas Castro und Laurent Préyale, die die „goldenen“ Jahre Revue
       passieren lässt. „Die Frauen erbrachten auch keine Leistung nach Tarif“, so
       Mischkind weiter, „sie machten das, weil sie Freude daran hatten, sich
       befriedigen lassen wollten.“
       
       Es steckt zweifellos einiges an Verklärung in dieser Aussage. Dass Frauen
       aus einem reinen Lustmotiv heraus in Pornofilmen mitspielen, gehört zum
       verbreiteten Narrativ des Geschäfts, dem männliche Betrachter allzu gern
       Glauben schenken.
       
       ## Der französische Geist der Freiheit
       
       Brigitte Lahaie, die vielleicht bekannteste und beste Darstellerin des
       „goldenen Zeitalters“, aber betont: „Das waren Frauen, die sich vom Joch
       der Bourgeoisie befreien wollten, von ihren Ehemännern, um zu zeigen, dass
       sie ebenso gut Geliebte haben und sich sexuell ausleben konnten.“ In der
       Doku sagt sie das als Frau von etwa 50 Jahren, auf ihrer Terrasse sitzend
       und ihre beiden Deutschen Doggen hinter sich wissend, die im
       Bildhintergrund wachsam umherstreifen. Seit vielen Jahren lebt sie
       zurückgezogen mit ihren Hunden und Pferden auf einem Landsitz etwa 60
       Kilometer von Paris entfernt.
       
       Man stellt sich diesen Landsitz vor wie das Setting des Films „Je suis à
       prendre“ (1978), den Lahaie selbst als einen ihrer besten bezeichnet, in
       dem sie auf einem weißen Pferd durch eine grüne Landschaft reiten darf. In
       der Schlussszene wird sie in ihrer Rolle der Hélène einer kleinen
       Gesellschaft vorgestellt, dann tritt sie einen Schritt vor und legt nach
       und nach ihr weißes Kleid ab. Ein Augenblick der Epiphanie, ehe die Szene
       in einer Orgie mündet.
       
       „Für mich war es immer am wichtigsten, dass ich mich frei fühlte“, sagt sie
       über ihre Jahre als Porno-Darstellerin. Es ist dieser französische Geist
       der Freiheit, den man im Internet heute so schmerzlich vermisst.
       Pornografie darf leicht und lustig sein, ja, und manchmal sogar etwas, was
       man sonst nur großer Kunst zuschreibt: der Vorschein einer besseren Welt.
       
       15 Oct 2015
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thorsten Glotzmann
       
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