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       # taz.de -- Von Russen eroberte Stadt Cherson: Erste Besetzung seit 1944
       
       > Cherson nahe der Halbinsel Krim war schon zu Zeiten von Katharina der
       > Großen Ziel politischer Großmachtfantasien. Präsident Putin eifert ihr
       > nun nach.
       
   IMG Bild: Monument mit „Katharinas Ruhm“, dem ersten Kriegsschiff im Auftrag der Zarin. Aufnahme von 1972
       
       Am Samstag wurde in Cherson geschossen. Russische Soldaten feuern aus ihren
       Gewehren Salven ab, offenbar in die Luft. Die Menschen auf dem
       Freiheitsplatz vertrieben sie damit nicht. Es sind, so viel lässt sich dem
       kurzen Video entnehmen, mehrere hundert, vielleicht über tausend Männer,
       Frauen, Alte, Junge, auch Halbwüchsige. Die einen schwenken blau-gelbe
       Fahnen, andere haben sich die ukrainische Flagge über ihre Schultern
       gelegt, sie rufen „Ruhm der Ukraine!“, sie brüllen, pfeifen. Als die
       Schüsse gellen, presst sich jemand auf den Asphalt. Manche laufen weg. Doch
       wirklich in die Flucht schlagen lässt sich die Menge nicht.
       
       Die russischen Soldaten müssen irgendwo beim Rathaus stehen, einem
       typischen Koloss im Stalin-Empirestil. Dort haben die Eindringlinge am
       vergangenen Mittwoch erstmals Bürgermeister Igor Kolychajew getroffen. „Ich
       habe ihnen keine Versprechungen gemacht“, erklärte der 50-Jährige später.
       „Ich habe sie nur gebeten, nicht auf Menschen zu schießen.“ Am Samstag
       haben sich die russischen Soldaten offenbar daran gehalten.
       
       Zum ersten Mal seit 1944 sind wieder Besatzer in Cherson. Sie rollen mit
       ihren gepanzerten Wagen über den Uschakow-Prospekt, der sich schnurgerade
       durch die Stadt zieht, sie kontrollieren die Stadtverwaltung, sie feuern
       aus ihren Gewehren und sie werden vom Kreml aus kommandiert – als wäre
       Cherson eine gefährliche, unheimliche Stadt. Dabei ist Cherson ein Kind des
       Imperiums.
       
       Cherson ist die Stadt von Katharina der Großen und Grigori Potjomkin. Die
       Kaiserin und der Fürst von Taurien haben in Cherson die Schwarzmeerflotte
       gegründet. Unten am Fluss Dnipro (auf Russisch: Dnepr) erinnert ein
       prächtiges Denkmal an den Bau des ersten Schiffes, „Ruhm Katharinas“ war
       sein Name, 66 Kanonen waren an Bord. Heute ist der Hauptstützpunkt dieser
       Flotte Sewastopol, ihre Geschütze sind auf die ukrainische Küste gerichtet,
       auch auf Cherson.
       
       ## Bukolische Freuden
       
       Es gibt Gegenden, die scheinen von der Welt vergessen. Jahrzehnte dämmerte
       Cherson zwischen Steppe und Meer. Die südukrainische Stadt mit ihren
       290.000 Einwohnern hat einen See- und einen Flusshafen und ist von
       Weinbergen, Weizen- und Sonnenblumenfeldern umgeben. Der Weizen lagert in
       mächtigen Silos, wird im Hafen umgeschlagen oder gleich auf dem Dnipro von
       Flussschiffen mit dickem Rüssel auf Hochseefrachter gepumpt.
       
       Nur wenn ein Kreuzfahrtschiff, auf dem Weg von Kiew zur Krim, im Hafen
       anlegte, kam Geschäftigkeit auf. Ausländische Touristen, viele aus
       Deutschland, schlenderten für Stunden über den Uschakow-Prospekt, besuchten
       den Bauernmarkt und kauften bei alten Frauen Tischdeckchen und Puppen aus
       Stoff. Oder sie bestiegen kleine Boote und ließen sich auf eine der
       Dnipro-Inseln schippern, wo sie mit Fisch und Selbstgebranntem bewirtet
       wurden. Die Ukraine – ein einziger bukolischer Traum.
       
       Jedem Besucher sind auch die Studenten der Marineakademie aufgefallen.
       Ukrainische Seeleute, auf der ganzen Welt unterwegs, erlernen ihr Handwerk
       in Cherson. Mit weißem Hemd, schwarzen Hosen und Messingschnallen prägen
       die jungen Burschen die Stadt. In Cherson, fünfzig Kilometer vom offenen
       Meer entfernt, wird die Ukraine eine Seefahrernation.
       
       ## Die Zäsur kam 2014
       
       Die ganze Beschaulichkeit endete 2014 abrupt. Mit der Annexion der Krim lag
       Cherson faktisch vor der russischen Grenze. Hundert Kilometer Steppe
       trennen die Stadt vom russischen Einfluss. Die Kreuzfahrtschiffe, mit der
       Krim ihres Hauptziels beraubt, blieben aus. Es wurde stiller – und
       gleichzeitig unruhiger. Im Februar 2015 explodierte ein Munitionslager der
       Armee in der Nähe der Stadt. Es gab vier Tote und viele Verletzte.
       Mutmaßungen über Saboteure von der Krim machten die Runde.
       
       Irgendwann, so glaubt man heute, habe Wladimir Putin begonnen, sich in
       Historienbücher zu vertiefen. Der Kremlherrscher stieg tief hinab in die
       russische Geschichte, studierte die Schlachten der großen Feldherren, die
       Kolonisierung von Neurussland, der fruchtbaren Steppenregion am Schwarzen
       Meer, die Einverleibung der Krim. Das „Sammeln russischer Erde“, die stete
       Ausdehnung des Imperiums auf Kosten der Nachbarn, war die politische
       Doktrin, die mit Iwan dem Schrecklichen begann und unter Katharina ihren
       Höhepunkt fand.
       
       Die Gründung von Cherson wird den Präsidenten besonders inspiriert haben.
       Was heute nur eine beschauliche Provinzstadt ist, war Teil eines Projekts,
       für das kein Opfer zu groß schien, auch kein Menschenopfer. Katharina II.
       ließ an der Mündung des Dnipro eine Stadt und eine Festung gründen, um in
       ihrem Schutz eine Kriegsflotte zu bauen. Sie sollte unter dem Doppeladler
       das Schwarze Meer durchpflügen, den Bosporus und Konstantinopel erobern und
       das oströmische Kaisertum wiedererrichten. Ein neues Byzanz würde geboren,
       regiert von einem russischen Kaiser.
       
       ## Katharinas „griechisches Projekt“
       
       Was heute wie Größenwahn wirkt, war vor 250 Jahren Großmachtpolitik. Das
       „griechische Projekt“ verfolgte Katharina II. über Jahrzehnte. 1762 hatte
       die Deutsche den russischen Thron bestiegen. Von Anfang an zu ihrer Seite –
       Grigori Potjomkin, zuerst Liebhaber, dann Freund und Chefplaner der Zarin.
       Alles Griechische, alles Antike war in St. Petersburg en vogue. Und so
       erhielt die Stadtgründung am Dnipro den Namen Cherson, nach der antiken
       Siedlung Chersonesos an der Südspitze der Krim. Die Halbinsel,
       Herrschaftsgebiet des Krim-Khanats, war schließlich Katharinas nächstes
       Ziel. Das Hinterland am Dnipro, abgetreten vom Osmanischen Reich, war nicht
       genug.
       
       Cherson ist planmäßig angelegt, die Straßen sind schnurgerade. Die
       Magistrale, der Uschakow-Prospekt, ist drei Kilometer lang und beginnt
       unten am Dnipro, wo das Bronzeschiff steht. Von der einstigen Festung sind
       nur noch Reste vorhanden, zwei Tore, ein Arsenal, Wälle. Was einst hundert
       Hektar einnahm, ist parzelliert und bebaut, Sportplätze, Parks, ein
       Kulturpalast. Doch eigentlich ist alles ein Friedhof. Cherson ist auf
       Sümpfen errichtet. Nicht nur St. Petersburg wurde auf Knochen errichtet,
       auch Cherson. 20.000 Menschen starben beim Aufbau der Stadt, die meisten an
       Malaria, Typhus, Pest.
       
       Als 1783 das erste Kriegsschiff vom Stapel läuft, ist Katharinas Interesse
       an Cherson bereits erlahmt. Im selben Jahr fällt ihr die Krim kampflos in
       den Schoß. Das Krim-Khanat wird aufgelöst und die Halbinsel dem Russischen
       Reich einverleibt, „von nun an und für alle Zeit“ wie es heißt, ihr neuer
       Name: Taurien, wie einst in der Antike.
       
       Wladimir Putin macht es heute wie die Zarin, nur umgekehrt. Erst nimmt er
       sich die Krim, jetzt greift er nach der Ukraine. Cherson, eine
       Gebietshauptstadt, ist die erste große Beute. Und mit ihr fällt Potjomkins
       Grab in russische Hand. Es gibt ein Denkmal, das an den Fürsten von Taurien
       erinnert, nicht weit vom Freiheitsplatz entfernt, wo am Samstag die Schüsse
       fielen. Wie ein antiker Gott steht Potjomkin da, schlank, in Rüstung und
       makellos. In Wahrheit war er einäugig.
       
       ## Auf Knochen aufgebaut
       
       Seinen größten Triumph feierte Potjomkin 1787. Kaiserin Katharina fuhr mit
       ihrem Hofstaat den Dnipro hinab, um ihre neuen Provinzen in Neurussland und
       auf der Krim zu besichtigen. Am Flussufer versammelte sich das Volk, Feuer
       loderten, sie erleuchteten Paläste, Türme und Häuser. Die ausländischen
       Gesandtschaften, die die Kaiserin begleiteten, sollten an Europas Höfen von
       der märchenhaften Reise berichten. Bald war allerdings von Kulissen aus
       Pappmaché und Sperrholz die Rede, kurz – von Potjomkinschen Dörfern.
       
       Auch Joseph II. war skeptisch. Der Kaiser aus Wien war ebenfalls zu Gast in
       Cherson. Katharina pries die „blühende Stadt“, Joseph aber hatte von den
       vielen Toten erfahren und flüsterte dem französischen Gesandten ins Ohr:
       „Alles erscheint leicht, wenn man mit Geld und Menschen verschwenderisch
       umgeht. Wir in Deutschland und Frankreich können uns das nicht erlauben,
       was man hier ohne Schaden zu tun wagt. Der Herrscher befiehlt und die
       Sklavenhorden gehorchen.“
       
       Merkwürdig, dass ein prunksüchtiger Mensch wie Potjomkin so eine
       bescheidene Grablege hat. Seine Morgenmäntel seien mit Diamanten besetzt
       gewesen, heißt es. Für den Aufbau von Cherson habe er in St. Petersburg
       einmal mehr als eine Million Rubel in bar eingesteckt. Potjomkin wollte in
       Cherson begraben werden. Gestorben ist er 1791 nicht in einer Schlacht,
       sondern an Malaria. Der Fürst von Taurien liegt am Rande der Festung in der
       Katharinenkirche unter einer Marmorplatte begraben. Frauen huschen am
       Eisenzaun vorbei, der das Grab wie einen Käfig begrenzt. Grigori Potjomkin
       hat Cherson als „sein Kind“ bezeichnet. Folgsam ist es allerdings nicht,
       bis heute.
       
       ## Hilfe aus Russland abgelehnt
       
       Jeden Tag, berichtet ein Augenzeuge aus Cherson, protestieren sie dort
       gegen die Besatzer. Und die „humanitäre Hilfe“ aus dem russischen
       Verteidigungsministerium wollen sie nicht. Russische Bilder zeigen einen
       Lkw-Konvoi, an dessen Seitenwänden, elegant geschwungen, das große Z der
       Besatzer prangt. Der Stadtrat von Cherson lehnte die Hilfe ab. Die
       russische Führung ist brüskiert. „Die Haltung der Chersoner Stadtspitze ist
       sehr ähnlich der des Kiewer Regimes!“, zürnt Außenminister Lawrow.
       
       Im Vergleich zu Lawrow, aber auch zu seinen eigenen Tiraden in den Tagen
       zuvor, ist Wladimir Putin am Vorabend des Frauentags von überaus großer
       Güte erfüllt. In einer Fernsehansprache aus dem Kreml gratuliert er allen
       russischen Frauen, lobt besonders die, die in den Streitkräften dienen,
       verkündet finanzielle Wohltaten, kommt kurz auf die Kampfhandlungen der
       „Spezialoperation“ zu sprechen und würdigt am Schluss eine ganz besondere
       „großartige Frau“. Putins Blick wird fest, dann beginnt er sie zu zitieren:
       „Ich werde meine Heimat verteidigen, mit dem Gesetz und mit dem Stift und
       mit Schwert! Solange ich lebe!“
       
       Hinter dem Präsidenten ragt ihr Standbild hervor. „Matuschka“ hat der
       Präsident sie eben genannt, Mütterchen. Das klingt friedlich. In Wahrheit
       ist Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst, so hieß sie bei ihrer
       Geburt, Putins Meisterin: Katharina die Zweite – Mutter von Cherson und
       größte Sammlerin russischer Erde.
       
       8 Mar 2022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Thomas Gerlach
       
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