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       # taz.de -- Von der Leyen an der Spitze der EU: Was sie sagt und was sie kann
       
       > EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat bei ihrer
       > Bewerbungsrede große Versprechungen gemacht. Kann sie diese erfüllen?
       
   IMG Bild: Muss ohne eigene, proeuropäische Mehrheit auskommen: Ursula von der Leyen
       
       Sie ist die erste Frau an der Spitze der EU-Kommission. Und die erste, die
       ohne eigene, proeuropäische Mehrheit im EU-Parlament auskommen muss: Ursula
       von der Leyen wird es nicht leicht haben in Brüssel. Ihr Start wird vom
       Scheitern der Spitzenkandidaten, undurchsichtigen Manövern der Staats- und
       Regierungschefs und unheiligen Allianzen im Parlament überschattet.
       
       „Es hat nichts mit Ihnen zu tun. Aber ich wähle Sie jetzt nicht, weil der
       Spitzenkandidaten-Prozess nicht funktioniert hat.“ Diesen Satz habe sie am
       häufigsten gehört, erklärte die CDU-Politikerin nach ihrer Zitterwahl am
       Dienstag in Straßburg. Nach einer [1][leidenschaftlichen Rede] reichte
       [2][es gerade einmal für einer knappen Mehrheit von neun Stimmen].
       
       Die meisten Neinsager dürften aus Deutschland gekommen sein. Linke, Grüne
       und die SPD, aber auch einige CDU- und CSU-Europaabgeordnete stimmten gegen
       die erste deutsche Kandidatin seit Walter Hallstein, der vor 50 Jahren die
       EU-Kommission führte. Laut ZDF-„Politbarometer“ finden es nur 41 Prozent
       der Deutschen gut, dass von der Leyen diesen Topjob übernimmt.
       
       Von der Leyen wurde mithilfe von Nationalisten aus Polen und Ungarn
       gewählt. Die polnische Regierungspartei PiS brüstet sich sogar damit, das
       „Zünglein an der Waage“ gewesen zu sein. Und Ungarns Regierungschef Viktor
       Orbán behauptet, er habe der Deutschen beim EU-Gipfel zum Durchbruch
       verholfen. Wird von der Leyen also eine Präsidentin von Orbáns Gnaden?
       
       „Mehrheit ist Mehrheit“, kontert sie. Einen „Green Deal“ hat sie ebenso
       versprochen wie Mindestlöhne in allen EU-Ländern und die strenge
       Überwachung des Rechtsstaats und anderer europäischer Grundwerte. Von der
       Leyen kann als Präsidentin der EU-Kommission nicht allein über EU-Recht
       entscheiden. Deshalb konnte sie im Vorfeld ihrer Wahl auch keine
       verbindlichen Zusagen machen. Es hängt nicht nur von ihr ab, ob sie ihre
       Absichtserklärungen umsetzen kann.
       
       Bei der Gesetzesinitiative hat die EU-Kommission zwar eine zentrale
       Position. Nur sie darf neue Verordnungen und Richtlinien vorschlagen. Über
       einen Vorschlag entscheidet die Kommission aber mit Mehrheit. Jeder der 28
       Kommissare hat eine Stimme.
       
       Die Kommissionspräsidentin hat keine Richtlinienkompetenz. Ihre Stellung
       ist damit schwächer als die der deutschen Bundeskanzlerin. Die Richtlinien
       und Verordnungen werden in der Regel gemeinsam vom Ministerrat (dem Gremium
       der nationalen Regierungen) und dem Europäischen Parlament beschlossen.
       Wenn die beiden Gremien sich uneinig sind, gibt es Verhandlungen. Die
       EU-Kommission sitzt dabei mit am Tisch, aber nur als Moderatorin.
       
       Grundsätzliche Änderungen, etwa die verbindliche Einführung des
       Spitzenkandidaten-Prinzips, erfordern eine Änderung der EU-Verträge. Die 28
       Staaten müssen einstimmig zustimmen, genau wie die nationalen Parlamente.
       In manchen Staaten können zusätzlich Volksabstimmungen erforderlich sein.
       Die EU-Kommission darf hier nur ihre Meinung äußern.
       
       ***
       
       Rechtsstaat 
       
       Was verspricht von der Leyen? 
       
       Die EU-Kommissionen soll einen jährlichen Bericht „zur Wahrung der
       Rechtsstaatlichkeit“ vorlegen. [3][Dieses Monitoring soll nicht nur für
       Problemstaaten wie Polen und Ungarn gelten], sondern „für alle
       Mitgliedstaaten einheitlich sein“, heißt es in von der Leyens Agenda. Die
       Koppelung von EU-Mitteln an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit vertritt
       sie nur zögerlich. „Das wäre das allerallerletzte Mittel nach vielen
       Stufen, die vorher kommen“, sagte sie der Süddeutschen Zeitung.
       
       Ist das realistisch? 
       
       Einen „jährlichen Bericht über die Rechtsstaatlichkeit in allen
       Mitgliedstaaten“ hat die EU-Kommission (in alter Besetzung) nach längerem
       Vorlauf bereits am Mittwoch beschlossen. Für derartige Berichte braucht die
       EU-Kommission nicht die Zustimmung von Rat und Parlament. Von der Leyen
       kündigte nur an, was ohnehin kommt.
       
       Schon im Mai 2018 hat die EU-Kommission vorgeschlagen, die Auszahlung von
       EU-Mitteln an die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit zu koppeln. Diese
       Verordnung müssten Rat und Parlament beschließen. Die Verhandlungen stehen
       noch am Anfang. Von der Leyen will sie offensichtlich nicht beschleunigen.
       Christian Rath
       
       ***
       
       ## Migration
       
       Was verspricht von der Leyen? 
       
       Einen neuen „Pakt für Migration und Asyl“ will sie vorschlagen,
       einschließlich einer Reform der Dublin-Regeln für Asylverfahren. In der
       Bild-Zeitung legte sie am Freitag nach: „Ich habe nie wirklich verstanden,
       warum Dublin mit der einfachen Gleichung begann: Wo ein Migrant zuerst
       europäischen Boden betritt, muss er oder sie bleiben.“
       
       Ist das realistisch? 
       
       Die Mitgliedstaaten [4][scheitern schon seit Jahren daran], sich dazu zu
       einigen und etwa einen EU-weiten Schlüssel zur Lastenverteilung
       einzuführen. „Die Debatte um Dublin ist wahnsinnig verfahren, weil sie so
       verknüpft ist mit der Verantwortungsteilung“, sagt Anne Koch von der
       Stiftung Wissenschaft und Politik. Dass von der Leyen zumindest rhetorisch
       eingegangen sei auf Solidarität und Verantwortungsteilung, zeige, dass die
       CDU-Politikerin richtig einschätze, wo die Arbeit zu tun sei. „Die
       Vorschläge, die gibt es bereits“, so Koch. Die Schwierigkeit liege im
       Erarbeiten politischer Mehrheiten.
       
       Zumindest eine konkrete Maßnahme hat von der Leyen aber vorschlagen: Die
       EU-Grenzschutzagentur Frontex soll schon bis 2024 statt 2027 um 10.000
       Menschen wachsen. Eva Oer
       
       ***
       
       ## Wirtschaft
       
       Was verspricht von der Leyen? 
       
       Ein Mindestlohn für alle EU-Länder und eine Arbeitslosen-Rückversicherung
       für die nächste Krise. Fast klingt es so, als habe Von der Leyen ihr
       Wirtschaftsprogramm bei der SPD abgeschrieben. Auch der Ausbau der
       „sozialen Säule“ und der Aufbau einer neuartigen „Garantie“ gegen
       Kinderarmut klingen viel versprechend.
       
       Ist das realistisch? 
       
       Von der Leyen geht nicht ins Detail, nennt keine Zahlen, sagt nichts zur
       Finanzierung.
       
       Nehmen wir den Mindestlohn: Den soll nicht die EU-Kommission festlegen,
       sondern die Mitgliedstaaten. Für die Höhe sollen die „Sozialpartner“
       verantwortlich sein. Doch das ist unrealistisch. In manchen Ländern – etwa
       Frankreich – wird der „SMIC“ von der Regierung festgelegt. In anderen – vor
       allem in Südosteuropa – sind die Gewerkschaften zu schwach, um höhere Löhne
       durchzusetzen.
       
       Noch schlechter steht es um die Arbeitslosenkasse. Bisher konnte sich nicht
       einmal Kanzlerin Angela Merkel für die Idee einer Rückversicherung
       erwärmen.
       
       Im Rat, der Vertretung der 28 EU-Länder, zeichnet sich dafür keine Mehrheit
       ab. Von der Leyen verspricht Dinge, [5][die sie kaum beeinflussen kann].
       Eric Bonse
       
       ***
       
       ## Green Deal
       
       Was verspricht von der Leyen? 
       
       Binnen 100 Tagen soll ein Gesetz mit dem Ziel entstehen, Europa bis 2050
       zum „ersten klimaneutralen Kontinent“ zu machen. Schon bis 2030 sollen 55
       Prozent weniger Treibhausgase emittiert werden, bislang sind lediglich 40
       Prozent weniger als 1990 geplant. Dazu soll der Emmissionshandel vom
       Industriesektor auf den Bau, den See- und Straßenverkehr ausgeweitet
       werden. Eine CO2-Grenzsteuer soll verhindern, dass Firmen, die
       klimaschädigend – und billig – produzieren, Europa mit ihren Produkten
       fluten.
       
       Ist das realistisch? 
       
       Klimaneutralität bis 2050? Dafür gibt es keine Mehrheit in Europa. Noch
       beim EU-Gipfel im Juni waren Polen, Tschechien und Ungarn dagegen. Auch
       andere Ankündigungen in von der Leyens „Green Deal“ sind erst mal Klima-PR.
       Experten rätseln, wie Europa eine CO2-Grenzsteuer einführen soll, ohne
       einen Handelskrieg mit dem Rest der Welt anzuzetteln. Immerhin: Von der
       Leyens Plan, eine Europäische Klimabank zu installieren, ist [6][eine Idee
       des französischen Präsidenten Emmanuel Macron]. Ähnliches gibt es bereits:
       Die Europäische Investitionsbank gilt als weltweit größter multilateraler
       Geldgeber für Klimaprojektfinanzierungen. Kai Schöneberg
       
       ***
       
       ## Digitales
       
       Was verspricht von der Leyen? 
       
       Investitionen in 5G und die Entwicklung europäischer Standards, dazu ein
       bisschen Disruption und die Ethik künstlicher Intelligenz. Als vorbildhaft
       für Europa sieht sie [7][die Datenschutz-Grundverordnung (DSVGO)]. Außerdem
       will sie die Regulierung der großen Internetplattformen vorantreiben.
       
       Ist das realistisch? 
       
       Ein Gesetz für Plattformen ist auf europäischer Ebene bereits in Arbeit.
       In dieser Woche [8][leakte netzpolitik.org ein vertrauliches Arbeitspapier
       der Kommission]. Der Prozess ist noch im Anfangsstadium, Ergebnisse in
       dieser Legislatur sind aber möglich. Die Komplexität der Materie lässt
       dabei viel Raum, um zu ähnlich umstrittenen Regelungen zu kommen, wie in
       der erst jüngst verabschiedeten Urheberrechtsreform.
       
       Die Entwicklung der 5G-Technologie wird auf weniger Widerstand stoßen. Eine
       Datenschutzreform ist sicher überfällig, angesichts der außerordentlich
       holprigen Operationalisierung der DSVGO, gerade in Deutschland, darf man
       hier jedoch keinen Goldstandard erwarten.
       
       Inwieweit von der Leyen ihren Einfluss für die Entwicklung militärisch
       nutzbarer Technologien nutzen wird, ist noch nicht klar. Daniél Kretschmar
       
       Korrekturhinweis: In einer früheren Version dieses Beitrags war die DSVGO
       als deutsches Gesetzt zugeordnet.
       
       19 Jul 2019
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Von-der-Leyens-Rede-im-EU-Parlament/!5612163
   DIR [2] /Wahl-der-EU-Kommissionspraesidentin/!5612224
   DIR [3] /EU-Kontrollen-zu-Rechtsstaatsverstoessen/!5607495
   DIR [4] /Kommentar-Fluechtlingspolitik-in-Europa/!5557479
   DIR [5] /Europas-Sozialpolitik/!5592086
   DIR [6] /Frankreichs-Praesident-und-die-EU/!5578200
   DIR [7] /Ein-Jahr-DSGVO/!5597437
   DIR [8] https://netzpolitik.org/2019/geleaktes-arbeitspapier-eu-kommission-erwaegt-neues-gesetz-fuer-plattformen/
       
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