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       # taz.de -- „Vor Sonnenaufgang“ am Theater Bremen: Auch ohne Erbe alles krank
       
       > Ein toll niederschmetternder Theaterabend in Bremen: Ewald Palmetshofers
       > „Vor Sonnenaufgang“ nutzt Gerhart Hauptmanns Vorlage, braucht sie aber
       > nicht.
       
   IMG Bild: Das tolle Ensemble steht mitten im Morgengrauen, das sich anfühlt, wie ein Untergang
       
       Zum Schluss fliegt alles auseinander. Sprache, zerfetzt, geschrieen, die
       Personen, simultane Aktionen, keine Handlung, taumelnde Menschen zwischen
       wehenden Bauplanenstreifen. Meterlang fluddern die aus dem Schnürboden,
       grell von Licht beglänzt. So schön und schrecklich geht Ewald Palmetshofers
       Drama „Vor Sonnenaufgang“ in Bremen zu Ende. So bricht der Tag an. Alles
       strahlt.
       
       Hier, in diesem Bild, lässt [1][Regisseur Klaus Schumacher] in seiner
       Produktion tatsächlich doch noch einmal Gerhart Hauptmanns Kunst
       durchscheinen: Auch dessen Theater-Erstling „Vor Sonnenaufgang“ endet,
       anders als Palmetshofers Text, im großartig orchestrierten Taumel der
       Zusammenhanglosigkeit, in Schreien, Schmerz, Lallen, Satzhälften,
       Parallelgeschehen.
       
       Klug. Denn dieser öffnende Schluss des 1889 verfassten
       Erbgesundheitslehrstücks ist noch sehr brauchbar – anders als der Rest.
       Statt Handlung hatte es die sozial-chemische Formel Bauernfamilie +
       Alkoholismus = unentrinnbarer Fluch auf die Bühne gebracht.
       
       [2][Palmetshofer] hat das Drama 2017 entkernt: Wie ein Architekt in die
       verbliebene Hülle eines dysfunktional gewordenen Baukörpers
       Sozialwohnungen, Büros oder ein Museum baut, hat der österreichische
       Dramatiker es gefüllt mit einem klugen, niederschmetternden
       Konversationsstück.
       
       Das bedient sich der Vorlage nur, um dann und wann ein altertümliches
       Element als nostalgisches Deko-Element ins Geschehen ragen zu lassen,
       [3][den unangenehmen Sex-Anbahnungsdialog aus Akt zwei etwa]. Außerdem
       borgt Palmetshofer den Titel, die Namen und die Konstellation der Figuren.
       
       ## Schwelende Konflikte
       
       Gelöscht hat er dafür die exklusiv von Männern erörterte Frauenfrage. Der
       alle Wendungen des Dramas motivierende Alkoholismus ist kein unentrinnbares
       genetisches Fatum, sondern beiläufige Zutat. Und Schlesisch spricht zum
       Glück auch keiner mehr.
       
       Schumachers unprätentiöser Regie gelingt es, aus allen sieben doch eher am
       Reißbrett entstandenen Figuren leibhaftige Menschen zu machen, aus den
       Schauspieler*innen – Guido Gallmann, Susanne Schrader, Lieke Hoppe,
       Simon Zigah, Martin Baum – ein fantastisch aufeinander reagierendes,
       einander wechselseitig Raum gebendes Ensemble. Eines, in dem wirklich alle,
       gleichwertig brillieren können – und es auch tun.
       
       Die von Katrin Plötzky gestaltete und von Christian Kemmetmüller effektvoll
       und sinnig ausgeleuchtete Kulisse, die am Ende so wirkungsvoll
       auseinanderfliegt, ist ein hinter milchig-transparenter PVC-Folie
       eingerüstetes Haus, dessen substanzielle Umgestaltung nicht abgeschlossen
       ist, immer noch nicht!
       
       Dorthin kehrt Egon Krause, Gründer eines
       Automobilzulieferer-Familienunternehmens, nachts besoffen zurück: zu seiner
       zweiten Frau Annemarie, die ihn schon lange lieber los wäre. Seine
       hochschwangere und tief depressive Tochter Martha wartet dort mit ihrem
       frustrierten Gemahl Thomas Hoffmann aufs Kind, darauf aus, durch die
       Mutterschaft ein neuer Mensch zu werden – und endlich in den Anbau
       einzuziehen, der halt ewig nicht fertig wird.
       
       Auch anwesend ist Helene, die jüngere Schwester, angeblich, um bei der
       Entbindung zu helfen, aber vor allem, weil sie sich in der Stadt ruiniert
       hat. Der Vorortarzt, der mal hat in die Forschung gehen wollen, untersucht
       die Schwangere, deren psychische Krankheit ihn aber überfordert.
       
       Die schwelenden Konflikte ins Lodern bringt der reingeschneite Journalist
       Alfred Loth, ein irgendwie-links gebliebener Studienfreund und WG-Genosse
       des nach rechts abgedrifteten Firmen-Erbaspiranten Hoffmann. Diesen Loth
       treibt um, was er als Spaltung der Gesellschaft empfindet, also: dass aus
       der Nähe von einst stetig wachsende Entfernung geworden ist.
       
       Aus Angst davor sucht er die Konfrontation, kommt aber analytisch dabei
       nicht weit: „Ich bin gekommen, weil ich wissen wollte, ob du auch / – / –
       /–“, sagt er im zentralen Zwiegespräch zu seinem einstigen Zimmernachbarn.
       
       Es folgen sieben weitere von Alexander Swoboda meisterhaft schweigend
       artikulierte Wortfindungsschwierigkeiten, bevor es weitergeht: „Na gut /
       dann geh ich mal.“
       
       Loth ergreift die Flucht. Wo der deterministische Hauptmann Enthaltsamkeit
       und Eugenik nahelegt, hat Palmetshofer gar keine Lösung im Angebot:
       Ratlosigkeit ist die Katastrophe der Gegenwart. Wahrscheinlich deswegen
       wird unverzüglich, kaum hat das Black das grelle Bühnenlicht überschrieben,
       derart verzweifelt geklatscht, und völlig zurecht begeistert.
       
       25 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schicksalsschlaege/!5107313
   DIR [2] /Archiv-Suche/!5501131&s=Palmetshofer&SuchRahmen=Print/
   DIR [3] https://www.projekt-gutenberg.org/hauptmag/vorsonne/chap003.html
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Benno Schirrmeister
       
       ## TAGS
       
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