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       # taz.de -- Vor Urteil im Koblenzer Folterprozess: Die Schuld des Anwar R.
       
       > Der Angeklagte soll Folter in Syrien verantwortet haben. Die
       > Zeugenaussagen sind kaum erträglich. Es ist das weltweit erste solche
       > Verfahren.
       
   IMG Bild: Ausstellung der aus Syrien geschmuggelten Fotos des Militärfotografen „Cäsar“ in New York
       
       Koblenz taz | Anwar R. ist in einen dunkelgrünen Parka gehüllt, dabei ist
       es warm im Saal. Die Heizung, die vor Weihnachten ausgefallen war,
       funktioniert wieder. Seinen Kopf hat der 58-jährige Syrer auf den linken
       Arm gestützt, anders als sonst scheint sein Blick ins Leere zu gehen. Über
       den Kopfhörer hört er das, was man die letzten Worte nennt, mit denen sich
       Angeklagte kurz vor dem Urteil noch einmal an das Gericht wenden können. Es
       sind seine Worte.
       
       Der Dolmetscher, der wenige Meter entfernt am Redepult steht, trägt auf
       Deutsch vor, was Anwar R. zuvor auf Arabisch formuliert hat, der Angeklagte
       selbst hört eine arabische Übersetzung. Es ist Donnerstagmittag in der
       vergangenen Woche, draußen kämpft sich die Sonne langsam durch den grauen
       Winterhimmel. Im Saal sieht man das nicht. Vor den großen Fenstern in Saal
       120 des Koblenzer Oberlandesgerichts sind die Stoffrollos heruntergelassen.
       
       „Ich erteilte keinen Befehl zur Folter“, liest der Dolmetscher vor. „Das
       Gegenteil ist der Fall. Ich half, so gut ich konnte.“ Er habe getan, was
       unter den Umständen möglich gewesen sei.
       
       Die Umstände, damit ist das Terrorregime von Syriens Präsident Baschar
       al-Assad gemeint. Das sind tödliche Schüsse auf Demonstrant:innen und
       Massaker an der Zivilbevölkerung, das sind Willkür und Folter und Menschen,
       die einfach verschwinden. Das alles ist so brutal und grausam, dass selbst
       die Schilderungen im Gerichtssaal schwer zu ertragen sind.
       
       Eine gute Dreiviertelstunde lang trägt der Dolmetscher Anwar R.s letzte
       Worte vor. Und je länger er spricht, desto klarer wird: R. bleibt nicht nur
       bei der Darstellung, dass er [1][unschuldig] ist. Er zählt sich selbst zu
       den Opfern des Regimes. Dabei steht er als mutmaßlicher Täter vor Gericht –
       seit mehr als anderthalb Jahren.
       
       ## Die Foltermethoden
       
       Ende April 2020 begann der Prozess, in dem Anwar R. wegen Verbrechen gegen
       die Menschlichkeit angeklagt ist. 17 Jahre lang, das ist unstrittig, hat er
       beim syrischen Geheimdienst gearbeitet, unter anderem als Ermittlungsleiter
       in der Abteilung 251, die für die Sicherheit in Damaskus und Umgebung
       zuständig ist. Untergebracht ist sie in zwei mehrstöckigen Gebäuden in
       einem Wohngebiet im Zentrum von Damaskus. Ein Gefängnis, das nach dem
       Stadtviertel Al Khatib genannt wird, gehört dazu. Dort sollen allein
       zwischen April 2011 bis September 2012, um diesem Zeitraum geht es im
       Prozess, systematisch Tausende Menschen [2][inhaftiert und gefoltert]
       worden sein. Manche sind an den Folgen gestorben.
       
       Überlebende berichten von sogenannten Willkommenspartys im Innenhof von Al
       Khatib, bei denen neue Gefangene getreten und geschlagen wurden, mit
       Fäusten, aber auch mit Gürteln und Schläuchen. Manche wurden so hart mit
       dem Kopf an die Wand gestoßen, dass sie ohnmächtig wurden.
       
       Sie erzählen von überfüllten Zellen, in denen man nur im Stehen schlafen
       konnte, und von Einzelhaft in so kleinen Räumen, in denen man selbst
       zusammengerollt wie ein Embryo an die Wände stieß. Von Gestank, Ungeziefer,
       fehlendem Sauerstoff. Von ungenießbarem und nicht ausreichendem Essen und
       verweigerter medizinischer Hilfe.
       
       Sie berichten, wie sie mit Augenbinde und auf dem Rücken gefesselten Händen
       zu den Verhören gebracht wurden, von Elektroschocks, Verbrennungen,
       Übergüssen mit Wasser und heißem Kunststoff, mit denen sie dann malträtiert
       wurden. Davon, dass die Gefangenen an den Händen gefesselt an der Decke
       aufgehängt werden, so dass nur die Zehenspitzen den Boden berühren.
       
       Von Foltermethoden wie „Falaka“, bei der das Opfer immer wieder auf die
       besonders empfindlichen Fußsohlen geschlagen wird. Oder dem „deutschen
       Stuhl“, dessen Lehne so weit nach hinten gebogen werden, dass der Rücken
       des Häftlings überstreckt und die Wirbelsäule brechen kann. Die Methode
       sollen geflüchtete Altnazis nach dem Zweiten Weltkrieg nach Syrien gebracht
       haben.
       
       ## Der „Mann des Regimes“
       
       Anwar R., der es bis zum Rang eines Obersts gebracht hat, war laut Anklage
       für das Gefängnis verantwortlich. Deshalb ist er wegen 58-fachen Mordes und
       Folter in mindestens 4.000 Fällen, wegen Vergewaltigung und sexueller
       Nötigung angeklagt. Er wird nicht beschuldigt, selbst gefoltert zu haben.
       R. soll aber dafür die Verantwortung tragen und so Mittäter sein.
       
       „Der Angeklagte war ein Mann des Regimes“, sagt Staatsanwältin Claudia Polz
       im [3][Plädoyer der Bundesanwaltschaft]. Es ist kurz vor Weihnachten, im
       Saal ist es kalt. R. habe die Gefängnismitarbeiter eingeteilt und ihre
       Arbeit überwacht, auch die systematische Folter. Er habe vom Ausmaß der
       Gewalt gewusst, auch dass Häftlinge an den Folgen starben. Das habe er
       zumindest billigend in Kauf genommen. R. sei die Schaltstelle zwischen
       Befehlserteilung und Befehlserfüllung gewesen, eine Schlüsselposition. Die
       Bundesanwaltschaft fordert deshalb eine lebenslange Haftstrafe mit der
       Feststellung der besonderen Schwere der Schuld. Die Höchststrafe.
       
       Die Verteidigung hat auf [4][Freispruch] plädiert. Zwar zweifele man die
       Verbrechen des Assad-Regimes und auch die Folter in Al Khatib nicht an,
       führt Rechtsanwalt Yorck Fratzky aus, kurz bevor die letzten Worte seines
       Mandanten verlesen werden. Doch Anwar R. sei nicht der Leiter des
       Gefängnisses gewesen, auch habe sein Vorgesetzter ihn entmachtet. R. habe
       „keine Organisationsherrschaft“ gehabt und könne deshalb für die Taten
       nicht verantwortlich gemacht werden. R. habe Inhaftierten geholfen und
       misshandelnde Soldaten bestraft, er sei desertiert und habe sich im Ausland
       der Opposition angeschlossen.
       
       Das Gericht muss nun darüber entscheiden, ob das Assad-Regime in Syrien
       „einen ausgedehnten und systematischen Angriff auf die Zivilbevölkerung“,
       also Völkerrechtsverbrechen, begangen hat. Nur dann kann es urteilen – was
       es im Fall des inzwischen verurteilten Mitangeklagten Eyad A. bereits getan
       hat. Und das Gericht muss bewerten, ob Anwar R. im Sinne der Anklage
       schuldig ist.
       
       ## Der erste solche Prozess weltweit
       
       R. und A. sind die ersten Mitarbeiter des [5][Assad-Regimes], die sich vor
       einem Gericht verantworten müssen, nicht nur in Deutschland, sondern
       weltweit. Dass dies in Deutschland möglich ist, liegt am Weltrechtsprinzip
       im deutschen Völkerstrafgesetzbuch. Demnach können hier auch Straftaten
       verfolgt werden, wenn Täter und Opfer keine Deutschen sind. Eigentlich
       gehören die Verbrechen in Syrien vor den Internationalen Strafgerichtshof.
       Doch dessen Tätigkeit haben Russland und China durch ein Veto im
       UN-Sicherheitsrat verhindert. Deshalb bleibt nur die nationale Justiz.
       
       Das Bundeskriminalamt ermittelt bereits seit gut zehn Jahren im Auftrag der
       Bundesanwaltschaft zu Syrien, zunächst in einem sogenannten
       Strukturverfahren, dann auch gegen einzelne Personen. Gegen Jamil Hassan,
       den ehemaligen Leiter des syrischen Luftwaffengeheimdienstes, hat der
       Bundesgerichtshof 2018 einen internationalen Haftbefehl erlassen. Hassan
       hält sich weiter in Syrien auf, doch er konnte sich mehrfach unbehelligt im
       Libanon medizinisch behandeln lassen. Anwar R. dagegen wurde verhaftet,
       weil er desertierte und nach Deutschland kam und die Polizei ihn an seiner
       Meldeadresse in Berlin antraf.
       
       Dass endlich ein Prozess stattfindet, empfinden viele in der syrischen
       Exilcommunity als einen ersten Schritt in Richtung Gerechtigkeit.
       Entscheidend sei die Botschaft, dass die Verbrecher früher oder später zur
       Rechenschaft gezogen würden, sagt einer der Al-Khatib-Überlebenden. Eine
       andere sagt: „Mein Glaube an Gerechtigkeit wird wiederhergestellt.“
       
       ## Ein Opfer als Nebenkläger
       
       [6][Feras Fayyad] ist der erste Überlebende, der vor Gericht aussagt, an
       einem Mittwoch Anfang Juni 2020. Fayyad, heute 37 Jahre alt, ist
       Filmregisseur und einer der Nebenkläger. Als im März 2011 auch in Syrien
       die Demonstrationen gegen das Regime beginnen, filmt Fayyad sie – und auch
       die brutale Reaktion der Sicherheitsbehörden. Zweimal wird er verhaftet und
       landet in Al Khatib. Schon bei der Ankunft sei er geschlagen worden und
       habe Schreie anderer Inhaftierter gehört. „Das waren Schreie, die waren
       nicht normal“, übersetzt der Dolmetscher. „Ich hatte große Angst.“ Von den
       Schreien, die Tag und Nacht durch das Gefängnis schallten, berichten fast
       alle Al-Khatib-Überlebenden. Furchteinflößende Schreie, die manchmal abrupt
       verstummten.
       
       Feras Fayyad beschreibt vor Gericht, wie er gedemütigt und geschlagen und
       an der Decke aufgehängt wurde. Und wie einer der Wärter dann versuchte,
       einen Stock in seinen After einzuführen. „Haben Sie den Stock in sich
       gefühlt?“, fragt Richterin Anne Kerber, das ist entscheidend für den
       Vorwurf der Vergewaltigung. „Einmal, mit einem Stoß“, antwortet Fayyad.
       Nach seiner Flucht musste er deshalb operiert werden, Albträume und Ängste
       verfolgen ihn bis heute.
       
       An einem Mittwoch Mitte August 2020 tritt der Zeuge, der nur [7][Z
       28/07/16] genannt wird, mit Perücke, angeklebtem Bart und dickem
       Brillengestell im Gerichtssaal auf. Weil seine Familie in Syrien vom
       Geheimdienst bedroht wird, bleibt er anonym. Z 28/07/16 hat 21 Jahre lang
       für den Allgemeinen Geheimdienst gearbeitet, viel mehr erfährt man über
       seine Tätigkeit nicht. Er berichtet, wie sich die Lage nach dem Ausbruch
       der Proteste im Frühling 2011 zugespitzt hat. Folter, sagt er, sei Routine
       gewesen, es habe nun praktisch keine Vernehmung mehr ohne gegeben. Tote
       habe man dabei in Kauf genommen.
       
       Einen Monat später ist Zeuge [8][Z 30/07/90] geladen, auch er bleibt
       anonym. Er hat für die Bestattungsbehörde in Damaskus gearbeitet, bis er
       2011 vom Geheimdienst verpflichtet wird, Laster voller Leichen zu
       Massengräbern außerhalb der Stadt zu fahren. „Sobald die Laster ihre Türen
       öffneten, verbreitete sich der Gestank“, sagt er. Blut und Maden seien von
       den Ladeflächen getropft, die Gesichter der Leichen mitunter nicht mehr
       erkennbar gewesen. Die Massengräber, sagt Z 30/07/9, seien teilweise über
       100 Meter lang und sechs Meter tief gewesen. Er musste die Anzahl der
       Leichen registrieren, dazu die Namen und Nummern der
       Geheimdienstabteilungen, aus der sie kamen. Etwa viermal pro Woche ist er
       gefahren, mit bis zu 700 Leichen pro Laster, jahrelang.
       
       ## Der Sachverständige
       
       Anfang November 2020 wirft der Sachverständige [9][Markus Rothschild] ein
       Bild nach dem anderen im Gerichtssaal an die Wand. Rothschild leitet die
       Rechtsmedizin der Universität Köln, im Auftrag der Bundesanwaltschaft hat
       er die sogenannten Caesar-Fotos forensisch untersucht. Ein ehemaliger
       syrischer Militärfotograf mit dem Decknamen „Caesar“ hat diese bei seiner
       Arbeit für Assads Regime heimlich kopiert und im Ausland veröffentlicht.
       Insgesamt sind es über 50.000 Bilder, fast 30.000 zeigen die Leichen von
       Menschen, die in Gefängnissen der syrischen Geheimdienste gestorben sind.
       Es sind Fotos von 6.787 Personen.
       
       Die Leichen sehen ausgemergelt aus, manche sind voller Striemen,
       Blutflecken und Verletzungen. Sie sind mit Nummern markiert, oft direkt auf
       der Haut. Anne Kerber, die Vorsitzende Richterin, wird später sagen: „Diese
       Bilder werde ich nicht vergessen.“
       
       Was Anwar R. bei solchen Berichten empfindet, ist schwer zu sagen. Der Mann
       mit der hohen Stirn und dem Schnauzer macht sich während des Prozesses
       akribisch Notizen auf kleine Zettel, die er dann in einen Umschlag steckt.
       Manchmal setzt er seine Brille auf, ganz selten schüttelt er den Kopf.
       Seine Gesichtszüge bleiben meist unverändert.
       
       ## Die Karriere beim syrischen Geheimdienst
       
       Anwar R. ist im Februar 1963 in Hula in der Nähe von Homs in Zentralsyrien
       geboren worden, hat Jura studiert und die Polizeiakademie besucht, wurde
       dort Ausbilder. Wegen seiner guten Leistungen wechselte er 1995 zum
       Allgemeinen Geheimdienst, 2008 wurde er Ermittlungsleiter in der Abteilung
       251. Anwar R. hat im Assad-Regime Karriere gemacht, Beförderung folgte auf
       Beförderung, zuletzt wurde er zum 1. Januar 2011 zum Oberst ernannt. Was
       besonders bemerkenswert ist, weil seine Loyalität wohl unter besonderer
       Beobachtung stand. Denn anders als Assad und seine mächtigsten Schergen ist
       Anwar R. nicht alawitischen Glaubens, er ist Sunnit.
       
       Anwar R. hat im Prozess stets geschwiegen, auch eine Stimmprobe hat er
       abgelehnt, wohl aus Angst, jemand könnte ihn erkennen. Am fünften
       Prozesstag, einem Montag Mitte Mai 2020, verlesen seine Anwälte eine
       Einlassung, 45 Seiten lang. Anwar R. streitet darin alle Vorwürfe ab. „Ich
       habe niemanden geschlagen noch gefoltert, ich habe auch niemals einen
       Befehl dazu erteilt“, liest sein Verteidiger vor. Die Vernehmungen seien
       „gewaltlos und respektvoll“ abgelaufen, systematische Folter streitet er
       ab. Misshandlungen habe es nur in anderen Abteilungen gegeben.
       
       Lange hat R. sich wohl weitgehend mit dem Regime identifiziert. Folgt man
       seinen Worten, änderte sich das im März 2011, als in Syrien die Menschen
       gegen ihre Unterdrückung auf die Straße gingen. Das Regime reagierte
       brutal, die Gefängnisse waren schnell überfüllt. „Das Chaos brach aus“,
       liest R.s Verteidiger vor.
       
       Folter, das haben zahlreiche Zeugen und Sachverständige im Prozess
       ausgesagt, gab es schon vor den Demonstrationen, auch in Al Khatib. Jetzt
       aber eskalierte die Gewalt. Auch dass jeder Demonstrant im Gefängnis landen
       konnte und nun häufig aus seiner Sicht professionelle Verhöre unmöglich
       waren, scheint nicht zu R.s Selbstverständnis als Ermittlungsleiter gepasst
       zu haben. Es ging nicht mehr darum, das sagen viele Zeugen, Informationen
       zu erlangen. Es ging um Zerstörung und Rache.
       
       Seit April 2011 sei er entschlossen gewesen zu desertieren, heißt es in R.s
       Einlassung, im Juni 2011 habe ihm sein Vorgesetzter seine Kompetenzen
       entzogen, weil er Inhaftierten geholfen habe. Formal aber sei er auf seinem
       Posten geblieben. Kurz vor Weihnachten sei er mit seiner Familie nach
       Jordanien geflohen, die Opposition habe dabei geholfen. Anfang 2014 nahm er
       als Teil der Delegation der syrischen Opposition an den Friedensgesprächen
       in Genf teil. Eine Mitarbeiterin des Auswärtigen Amts hat dies bestätigt.
       
       Anfangs feierte die Opposition R.s Desertion. Nur wenige so hochrangige
       Geheimdienstler waren übergelaufen. Riad Seif, einer der prominentesten
       Regimekritiker, der in Berlin im Exil lebt, sagt dem Gericht: „Wir wollten
       die Unterstützung der Abtrünnigen und Informationen über das System.“ Von
       dem hochrangigen Überläufer habe man sich viel erhofft. „Aber da kam
       nichts, kein Wort.“ Auch zahlreiche Zeugen haben R. während des Prozesses
       angefleht, endlich sein Wissen über Inhaftierte zu offenbaren. Doch R.
       schweigt. In Syrien werden noch immer Zehntausende Menschen vermisst.
       
       Durch eine Empfehlung Seifs kam R. in ein Aufnahmeprogramm für besonders
       schutzbedürftige Syrer. Im Juli 2014 reiste er mit seiner Familie von Amman
       nach Berlin.
       
       Dort wandte sich R. an die Polizei, weil er sich vom syrischen Geheimdienst
       bedroht fühlte. Als er später in einem Verfahren gegen einen anderen Syrer
       beim Landeskriminalamt (LKA) Baden-Württemberg ausführlich aussagte,
       leiteten die Beamten den Fall an das BKA weiter, das 2017 Ermittlungen
       gegen ihn aufnimmt. Im Februar 2019 wird er verhaftet.
       
       Grundsätzlich moralische Bedenken gegen Folter hat Anwar R. an keiner
       Stelle formuliert. Abgestoßen scheint ihn ihr exzessiver Einsatz zu haben.
       Bei seiner Aussage beim LKA hat er bestätigt, dass er persönlich an
       Vernehmungen von Regimegegner:innen beteiligt war. Die Vernehmungen
       seien sowohl mit Gewalt als auch friedlich durchgeführt worden. Insgesamt
       seien es „hunderte Vernehmungen täglich“ gewesen, dabei habe man „nicht
       immer höflich bleiben können“. Es habe auch „strenge Vernehmungen“ gegeben.
       
       Zeuge [10][Z 28/07/16], der im August 2020 maskiert im Gerichtssaal
       aufgetreten war, hatte auf eine Frage nach den Codewörtern, von denen er
       bei Vernehmungen berichtet hatte, gesagt: „Mit ‚strengen Vernehmungen‘ ist
       gemeint, dass alle Mittel angewendet werden, auch wenn der Gefangene dabei
       verstirbt.“ Von einer Entmachtung hatte R. weder beim Stuttgarter LKA noch
       bei anderen Vernehmungen berichtet. Die Bundesanwaltschaft nennt dies in
       ihrem Plädoyer „eine leicht zu widerlegende Schutzbehauptung“ und führt
       zahlreiche Belege dafür an, dass Anwar R. auch nach dem Juni 2011 weiter
       fest im Sattel saß. Dass R. entmachtet worden sei, aber offiziell weiter
       Oberst und Leiter der Unterabteilung „Ermittlungen“ geblieben sei, hält
       Zeuge Z 28/07/16 für „unvorstellbar“.
       
       Vor wenigen Wochen, kurz vor Weihnachten, bevor die Anwälte der Nebenklage
       ihre Plädoyers vortragen, ergreifen in Koblenzer Gerichtssaal 120 noch
       einmal Überlebende das Wort. Hussein Ghrer, einer von ihnen, sagt: „Ich
       hätte dem Angeklagten seine gegen mich begangenen Verbrechen möglicherweise
       verzeihen können.“ Er sei nicht auf persönliche Rache aus, sondern wolle
       Gerechtigkeit. Aber Anwar R. zeige keine Reue, übernehme keine
       Verantwortung für die Verbrechen, die er begangen oder zu denen er
       beigetragen habe. Und er behaupte bis heute, dass es in der
       Al-Khatib-Abteilung überhaupt keine systematische Folter gab.
       
       Vergebung scheint so nicht möglich zu sein. Umso mehr hoffen die
       Überlebenden auf ein angemessenes Urteil. Am Donnerstag wird Anne Kerber,
       die Vorsitzende Richterin der Koblenzer Strafschutzkammer, das weltweit
       erste Urteil gegen einen Oberst des syrischen Geheimdienstes verkünden.
       
       12 Jan 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Prozess-wegen-Folter-in-Syrien/!5683969
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   DIR [8] /Prozess-wegen-Folter-in-Syrien/!5713535
   DIR [9] /Koblenzer-Prozess-zu-Folter-in-Syrien/!5726009
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   DIR Nach dem Urteil im Syrien-Folterprozess: Die Täter sind noch an der Macht
       
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       bisher.