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       # taz.de -- Wahlbetrug in Venezuela: Das Drehbuch der autoritären Linken
       
       > Was derzeit in Venezuela geschieht, kommt unserem Autor bekannt vor. Ein
       > Essay zur Ideengeschichte des Wahlbetrugs.
       
   IMG Bild: Mit der richtigen Erzählung überzeugen auch Wahlbetrüger: Anhänger von Nicolás Maduro kurz nach seiner umstrittenen Wiederwahl
       
       Ich habe den Eindruck, dass ich diesen Film bereits gesehen habe. Obwohl
       mir detaillierte Kenntnisse des politischen Geschehens Venezuelas fehlen,
       werde ich den Eindruck nicht los, dass die autoritären Linken in dieser
       Region des Planeten nach einem genau abgestimmten Protokoll, einem
       Libretto, einem Drehbuch mit nur wenigen unterschiedlichen Nuancen
       vorgehen. Eine Rückschau dessen, was 2019 in Bolivien geschah, ist in
       diesem Zusammenhang exemplarisch.
       
       Erster Akt: Wahlen durch Selektion. Dabei wird versucht, sie erst dann in
       Gang zu setzen, wenn alles, das heißt öffentliche Institutionen wie Medien
       und Justiz, unter Kontrolle steht und damit gezielt gelenkt werden kann.
       Dabei wird an keiner Mühe gespart, den Anschein von Wahlfreiheit zu
       erwecken – obgleich, wie es später bekannt wird, die Würfel bereits
       gefallen sind. Auf dem Weg dorthin werden Oppositionelle inhaftiert,
       Kritiker bedroht, eingeschüchtert und notfalls durch Bestechung auf ihre
       Seite gebracht, neue Gesetze verabschiedet, abtrünnige Bürger
       eingeschüchtert und verunglimpft.
       
       Zweiter Akt: Wahlbetrug nach Vorbild der vormaligen „Partei der
       institutionalisierten Revolution“ Mexikos. Der Vorgang: Selbst wenn bei der
       Beherrschung aller Figuren auf dem Spielbrett zu offensichtlich wird, dass
       die Unterstützung der Bevölkerung dahinschwindet, muss der Vorgang
       verdreht, das anfälligste Glied der Kette und der Ort, wo wirksamer,
       effektiver und risikofreier interveniert werden kann, jeweils identifiziert
       werden.
       
       Dabei wird Druck auf Wahlbeamte ausgeübt, um die Stimmenzählung zu
       manipulieren, demnach sogar der elektrische Strom ausgeschaltet, damit das
       Datenermittlungssystem unterbrochen werden kann, oder versteckte Rechner
       in den Zählvorgang zur Datenmanipulation eingeschleust, um zumindest ein
       akzeptables Wahlergebnis zu erzielen – das anschließend als Sieg
       präsentiert werden kann.
       
       ## Wie kann eine Lüge überzeugen?
       
       Dritter Akt: die Schaffung eines Narrativs nach bolivianischem Vorbild. Es
       ist wohlbekannt, dass eine Lüge sehr überzeugend wirken muss, damit eine
       als allgemein bekannte Wahrheit verschleiert werden kann. Nachdem 2019 die
       Wahlen verlorengingen und die vormals Regierenden als Betrüger entlarvt
       wurden, bedurfte es einer soliden Erzählung jener, die gegen das
       Schachbrett getreten und damit die Sauerei verdeckt hatten – um den Streit
       anschließend auf einen anderen Ort zu verschieben. In Bolivien erfolgte das
       durch die Partei „Movimiento al Socialismo“ als Konstruktion einer
       [1][„Staatsstreich“-These], was eine wirksame Lüge, ein überzeugender
       Schwindel war und zu einem Argument for export wurde.
       
       Das legere, salopp vorgetragene Konstrukt einer „neuen Geschichte“, ein
       Ideologem, parolenhaft als Volk, Imperialismus, Folter, Demokratie,
       Revolution und Sozialismus imaginiert, muss nun vom Staat und seinen
       Tentakeln aus orchestriert werden. Dies erfolgt mittels der Mobilisierung
       von einheimischen, internationalen Hofintellektuellen und jenen Predigern,
       die an das „antiimperialistische“ Libretto glauben und damit ein relativ
       überzeugendes Narrativ erfinden, das ihre ihnen hörigen, gläubigen Adepten
       in ihren Netzwerken verbreiten können. Die Handlungsvorlage: den Müll unter
       den Teppich kehren, den Leichnam in den Schrank stecken, um dann so zu tun,
       als sei nichts geschehen. Wir haben eben gewonnen. Und damit Punkt.
       
       Wie gesagt: Der Ausgang der Wahlen in Venezuela hat mich an das erinnert,
       was wir in Bolivien vor fünf Jahren erlebt haben – als das Land, am Rande
       des Abgrunds, das gleiche dramatische Szenario durchlief. Das Schlimmste
       ist der Eindruck, dass dieser „Regierungsstil“ zu einem Merkmal der Politik
       jener wird, die sich als Linke bezeichnen. Auch wenn ich die Hintergründe
       anderer Länder nicht genau kenne, so scheint es mir doch, dass Venezuela,
       Bolivien [2][und Nicaragua im gleichen Chor] singen – wenn sie jeweils an
       der Reihe sind, Wahlen abzuhalten. In Chile ist das glücklicherweise nicht
       der Fall. Gabriel Boric hat sich wohl klar positioniert, indem er kürzlich
       klarstellte, dass die Wahl in Venezuela respektiert werden muss, auch wenn
       sie nicht günstig für die Linken ausfällt. Das ist konsequent.
       
       Der Optimismus hält sich jedoch in Grenzen. Die Diagnose einiger Autorinnen
       und Autoren ist eher düster: Wir befinden uns in der Phase einer
       Postdemokratie. Alles deutet darauf hin, dass die Stimme nicht mehr
       wirklich zählt und damit der Ausdruck einer Mehrheit der Bevölkerung immer
       mehr zu einem entbehrlichen Detail wird. Die zentrale Frage ist dabei,
       welches Narrativ durchgesetzt werden kann.
       
       ## George Orwells Horrorvision
       
       Die Wahlurne scheint derweil der Vergangenheit anzugehören. Es geht also
       immer weniger darum, vom Volk gewählt zu werden, sondern darum, dem
       einstigen Wahlsouverän die Vorstellung aufzudrängen, dass er einen gewählt
       hat. Es schaltet und waltet nunmehr George Orwells Horrorvision: dass wir
       alle dem Glauben zu schenken haben, was den Mächtigen vollends
       entgegenkommt: die Auslegung dessen, was geschehen ist.
       
       Es ist merkwürdig. Ich erinnere mich jetzt daran, als 1990 Daniel Ortega
       die Wahlen gegen Violeta Chamorro in Nicaragua verlor. Bei einem Vortrag in
       Mexiko sagte er, dass er und seine Anhänger nie daran gedacht hätten, die
       Resultate zu manipulieren. Denn sie würden natürlich die Niederlage
       akzeptieren und damit das Mandat aus den Wahlurnen respektieren. Das war
       offensichtlich eine Kritik an der PRI, die auf eine lange Geschichte von
       Betrügereien zurückblicken muss; auch jene PRI, die zwei Jahre zuvor
       Cuauhtémoc Cárdenas die Präsidentschaft gestohlen hatte. Nun ja, auch
       Ortega vergaß leider schnell seine Worte.
       
       Alles deutet letztlich darauf hin, dass die Demokratie im Sterben liegt –
       eine Wendung des „Schicksals“ vielleicht? Ihre Henker sind nun jene, die
       einst für sie gekämpft haben. Und in der Zwischenzeit schreibe ich einer
       lieben Freundin und brillanten venezolanischen Universitätsdozentin: „Wie
       geht’s?“ – „Wir sind am Boden zerstört“, antwortet sie aus Caracas. Später
       fügt sie hinzu: „Hier werden sogar Leute aus den Unterschichten verfolgt.
       Maduros paramilitärische Trupps machen derweil die Drecksarbeit.“ Nichts
       Neues, denke ich. Wir sind am Boden zerstört, müde, angewidert. Sie haben
       vielleicht die Hoffnung verloren. Die Geschichte wird sie jedenfalls
       richten – sofern jene freilich sie am Leben lassen.
       
       Aus dem Spanischen von Hugo Velarde
       
       13 Aug 2024
       
       ## LINKS
       
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   DIR [2] /Menschenrechte-in-Nicaragua/!5893941
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Hugo José Suárez
       
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