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       # taz.de -- Wahlkampf in Nordrhein-Westfalen: Zwischen Bibbern und Augenreiben
       
       > Bei der CDU herrscht Frust, das ist unübersehbar. Die SPD hingegen kann
       > ihr Glück kaum fassen. Eindrücke vom Straßenwahlkampf in NRW.
       
       Köln/Leverkusen/Essen taz | Serap Güler kämpft. Nordrhein-Westfalens
       Staatssekretärin für Integration will mit CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet
       nach Berlin, hofft auf ein Bundestagsmandat. Am Samstagnachmittag läuft die
       40-Jährige deshalb mit schnellen Schritten durch die Waldsiedlung in
       Leverkusen-Schlebusch und wirft eigenhändig Flyer in die Briefkästen. Seit
       dem Morgen ist Güler im Wahlkampfeinsatz, immer freundlich, immer
       zugewandt, immer mit einem Lächeln auf den Lippen. Der Druck, unter dem sie
       acht Tage vor der Wahl steht, ist ihr nur selten anzumerken. „Im Moment bin
       ich froh, wenn ich auf fünf Stunden Schlaf komme“, sagt sie dann.
       
       Hier in der Waldsiedlung sind kaum Menschen auf den Straßen zu sehen –
       trotzdem ist der kilometerlange Marsch für die im nördlichen Ruhrgebiet
       geborene Tochter türkischer Arbeitsmigrant:innen ein Heimspiel: „Die
       meisten hier wählen Sie sowieso“, sagt ihr ein Mann, der ihre Wahlwerbung
       durch die heruntergelassene Scheibe seines Pkw entgegennimmt.
       
       Die Waldsiedlung, das ist der gediegene Wohlstand der alten rheinischen
       Bundesrepublik. Der Fluss ist nur wenige Kilometer entfernt, die Gärten
       sind groß, der Baumbestand alt. Besuch wird dezent auf Abstand gehalten:
       Die Klingeln finden sich nicht an den Häusern, sondern schon an der
       Grundstücksgrenze. „Bei der Kommunalwahl im vergangenen Jahr haben wir hier
       45 Prozent geholt“, sagt Jonas Dankert, Kreisvorsitzender der Jungen Union
       Leverkusens, der Serap Güler auf ihrem Haustürwahlkampf begleitet. „Wenn
       die uns hier nicht mehr wählen“, sagt der 25-Jährige – und bricht den Satz
       dann lieber schnell ab.
       
       Was Dankert treibt, ist die Angst, die die Christdemokraten überall in
       Deutschland befallen hat. Seit Wochen schon liegt die SPD in Umfragen mit
       25 bis 26 Prozent vorn, dümpeln CDU und CSU bei miesen 20 bis 22 Prozent.
       Erstmals seit 2005 sind die Oppositionsbänke in Sicht.
       
       ## Die drohende Selbstzerfleischung der CDU
       
       Der Union, die sich immer als die Regierungspartei der Bundesrepublik
       begriffen hat, droht damit mehr als ein Machtverlust: Sollte ihr
       Kanzlerkandidat am Sonntag tatsächlich krachend scheitern, stehen heftige
       Machtkämpfe an zwischen dem liberalen Merkelflügel Laschets und den
       Konservativen rund um den neoliberalen Hardliner Friedrich Merz, der selbst
       in der heißesten Wahlkampfphase laut über einen Arbeitsdienst für
       Langzeitarbeitslose nachdachte. Die CDU könnte sich selbst zerfleischen.
       
       Auf welcher Seite Serap Güler steht, ist klar: [1][Sie gilt in der CDU als
       Laschet-Ultra]. Am Sonntag sitzt sie mit den Christdemokraten Volker
       Bouffier und Thomas Strobl im Fanblock, der Laschet nach dem dritten
       TV-Duell wie einen strahlenden Sieger begrüßt.
       
       Für Laschet hat die Bergmannstochter aus Marl schon als Referentin
       gearbeitet, als der noch Deutschlands erster Integrationsminister war. 2009
       ist Güler in die CDU eingetreten, 2017 ernannte Laschet sie zur
       Staatssekretärin. Für Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidenten ist seine
       Vertraute das Symbol einer neuen, weltoffenen Union, wählbar auch für
       Menschen mit Migrationshintergrund und urbane Mittelschichten.
       [2][„Konservativ, liberal, sozial“ sei sie, sagt Güler selbst] – und ist
       damit quasi die Parteilinke. Ihr Auftritt in der Waldsiedlung ist der
       Versuch, kurz vor der Wahl wenigstens möglichst viele Stammwähler:innen
       zu mobilisieren, um wieder auf Augenhöhe zur SPD zu kommen – und so ihren
       Förderer Laschet zu retten.
       
       Denn dass ihr Wahlkampf da, wo sie eigentlich punkten soll, nicht rund
       läuft, weiß Güler selbst. Sie tritt im Wahlkreis Leverkusen – Köln IV an.
       Dazu gehören Viertel wie Dellbrück, Buchforst und soziale Brennpunkte wie
       der Wiener Platz: Früher wurde hier viel CDU gewählt, heute immer mehr
       Grün. Schon am Morgen war Güler hier unterwegs – und ist gewarnt worden:
       „Für Sie ist hier nichts zu holen“, sagt ihr eine pensionierte Lehrerin in
       Buchforst, die sich als CDU-Wählerin zu erkennen gibt. „Ich wohne hier. Die
       SPD könnte einen Besenstiel aufstellen – und der würde gewählt.“
       
       Güler, die für die doppelte Staatsbürgerschaft ebenso kämpft wie für ein
       Bundesintegrationsministerium, das Einwanderung organisieren und
       Deutschlands massiven Fachkräftemangel von 400.000 jährlich fehlenden
       Arbeitskräften bekämpfen soll, stellt sich trotzdem unter die orangenen
       Sonnenschirme ihrer CDU. Auf weißen Stehtischchen liegen Flyer mit ihrem
       Foto, dazu Kugelschreiber, Flaschenöffner und Buntstifte als
       Werbegeschenke.
       
       „Mein Name ist Serap Güler, ich bin ihre Wahlkreiskandidatin von der CDU“,
       spricht sie ein Paar im Rentenalter an. Er hat als Anästhesist, sie als
       Krankenschwester gearbeitet. „Sehr entzückend“ finde sie „Frau Güler“,
       erklärt die 70-Jährige prompt – Migration habe sie immer als „Bereicherung“
       wahrgenommen. Gewählt haben die beiden schon per Briefwahl, aber nicht die
       CDU.
       
       Stattdessen gingen ihre Zweitstimmen an die Grünen, erzählen sie – und die
       Erststimmen an Gülers starken SPD-Konkurrenten im Wahlkreis. Der ist einer
       der bekanntesten Sozialdemokraten, in der Coronakrise auf allen Kanälen, in
       den sozialen Netzwerken fast omnipräsent: der Gesundheitsexperte Karl
       Lauterbach. „30 Jahre lang“ habe die CDU „die Klimakatastrophe
       verschlafen“, erklärt das Rentnerpaar – deshalb grün. Und der Mediziner
       Lauterbach, der sei „in der Pandemie so angefeindet worden, der muss
       einfach gestärkt werden“, sagt der pensionierte Anästhesist.
       
       Viermal schon hat Lauterbach den Wahlkreis seit 2005 per Erststimme erobert
       – und zumindest laut der Prognose des Portals election.de wird der
       Sozialdemokrat auch in diesem Jahr direkt gewählt werden. Zwar ist Güler
       selbst über Platz 8 der CDU-Landesliste relativ komfortabel abgesichert: In
       den Bundestag könnte sie es wohl auch schaffen, wenn die Union am Sonntag
       ihre demütigendste Niederlage seit Gründung der Bundesrepublik einführe.
       
       ## Handwerkliche Schwächen der CDU-Kampagne
       
       Für Laschet aber wäre eine Niederlage Gülers gegen Lauterbach ein weiteres
       Symbol seines Scheiterns, gerade im bevölkerungsreichsten
       Nordrhein-Westfalen, das für die Bundestagswahl entscheidend ist. Zwischen
       Rhein und Weser leben mehr als 18 Millionen Menschen – das sind rund 21
       Prozent der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik.
       
       Dass Laschet mit seinem merkwürdigen Lachanfall mitten im Flutgebiet, mit
       seinen vielen schrägen TV-Auftritten selbst riesige Fehler gemacht hat,
       weiß Güler. Als sie aus ihrem Wahlkampfmobil aussteigt, einem mit ihrem
       Foto beklebten und Wahlwerbung vollgestopften Elektroauto, versucht sie
       trotzdem, ihren Förderer zu verteidigen. „Ich bin von Laschet überzeugt“,
       sagt sie tapfer. Allerdings: Die Frage, ob der Kandidat richtig verkauft
       werde, die sei schon „berechtigt“. Es scheint Frust aus ihr
       herauszubrechen.
       
       Simpelste handwerkliche Schwächen habe die CDU-Kampagne. „Wissen Sie, wie
       viele Plakate mit dem Foto Laschets wir für ganz Köln bekommen haben? 30!“,
       ärgert sich die Wahlkämpferin, die sich jetzt fragen lassen muss, ob sie
       den vermeintlichen Verlierer genauso gezielt verstecke wie etwa
       Parteifreunde im Saarland. „Dies ist der zähste Wahlkampf, seit ich 2009 in
       die Partei eingetreten bin“, seufzt Güler. „Der Sonntag endet entweder mit
       einer riesigen Niederlage für die CDU – oder für die Demoskopen.“
       
       Zwar gibt es derzeit keine aktuellen Umfragen, in denen das Abschneiden der
       Parteien bei der Bundestagswahl allein in Nordrhein-Westfalen ermittelt
       wurde. Erhoben worden seien ihre Stichproben bundesweit, erklären die
       Institute. Der Inhaber von election.de, Matthias Moehl, nennt dagegen
       Zahlen – und danach ist auch in Laschets Heimat keinerlei Durchmarsch
       seiner Christdemokraten in Sicht. „In Nordrhein-Westfalen sehen wir die SPD
       relativ weit vorn“, sagt Moehl. Von den 64 Wahlkreisen könne die SPD bis zu
       40 erobern – die CDU werde den Erhebungen nach dagegen nur etwa 24
       Direktmandate erringen.
       
       Insgesamt gingen die Projektionen von election.de von insgesamt 168
       Bundestagssitzen aus, die allein in NRW per Erst- und Zweitstimme vergeben
       werden könnten. Und von diesen könnten laut Moehl 55 an die SPD und 37 an
       die CDU gehen. In ihrem einstigen Stammland an Rhein und Ruhr wären die
       Sozialdemokraten plötzlich wieder die Platzhirsche, die sie jahrzehntelang
       waren.
       
       Trotzdem sind das nur Annäherungswerte – schließlich liegen auch die
       bundesweiten Umfragen bei Fehlertoleranzen von 2,5 bis 3 Prozent. „Bis zum
       Wahlabend bleibt vieles offen – die Demoskopie, die Prognosen kommen an
       ihre Grenzen“, sagt Moehl.
       
       „Es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass die SPD auf Platz eins liegen
       wird“, glaubt auch der Politikwissenschaftler Stefan Marschall, der an der
       Düsseldorfer Heinrich-Heine-Universität einen Lehrstuhl mit dem Schwerpunkt
       „Politisches System Deutschlands“ hat. Allerdings basiere der Vorsprung
       Sozialdemokraten vor allem auf den hohen Kompetenz- und Sympathiewerten
       ihres Kanzlerkandidaten Olaf Scholz. „Auf dem Wahlzettel stehen aber nicht
       die Namen von Kandidaten, sondern von Parteien“, warnt Marschall. „Wirklich
       einschätzen können wir das Wahlergebnis erst am Sonntag um 18:01 Uhr.“
       
       Laschet setzt deshalb auf das Prinzip Hoffnung – wer jetzt verzagt wirkt,
       hat schon verloren. In einer „Aufholjagd“, sei die Union, beteuert der
       CDU-Kanzlerkandidat deshalb immer wieder, „das Rennen“ sei „offen wie nie
       zuvor“. Auch Bayerns CSU-Ministerpräsident Markus Söder hofft auf ein
       „Wimpernschlagfinale“ – dabei hatte der Mann in München über Monate immer
       wieder klargemacht, dass er sich selbst weiter für den besseren
       Kanzlerkandidat hält. Sticheleien, ins Kanzleramt komme man nicht im
       Schlafwagen, zielten direkt auf Laschet. Wenige Tage vor der Bundestagswahl
       sieht Söder jetzt „die Talfahrt der letzten Wochen gestoppt“, immerhin.
       
       In der Union aber gilt allein schon die Vorstellung eines
       Kopf-an-Kopf-Rennens mit der SPD als größte vorstellbare Katastrophe, sorgt
       für Wut – und schon heute für Schuldzuweisungen. „Schlecht organisiert“,
       „schlecht gemacht“ sei der Wahlkampf, stöhnen deshalb Christdemokraten in
       Nordrhein-Westfalens Landeshauptstadt Düsseldorf. Im Blick haben sie das
       Konrad-Adenauer-Haus, die CDU-Parteizentrale in Berlin. Geführt wird die
       von dem aus dem sauerländisch-westfälischen Iserlohn stammenden
       Generalsekretär Paul Ziemiak. Die mögliche Selbstzerfleischung der Union –
       sie wird schon Tage vor der Wahl spürbar.
       
       „Nichtssagend“, inhaltsleer, nicht auf den einst als liberal und auf
       sozialen Ausgleich bedachten Laschet zugeschnitten sei die eigene Kampagne,
       heißt es am Rhein von CDUlern, die nicht genannt werden möchten: „Wir
       erzählen keine Geschichte, warum wir nach 16 Jahren Merkel weitere 4 Jahre
       den Kanzler stellen müssen.“
       
       Doch für Frust und Wut gerade unter progressiveren Christdemokraten sorgt
       auch Laschet selbst. Nicht wenige seiner Unterstützer:innen fühlen
       sich durch die Personalauswahl ihres Kanzlerkandidaten übergangen – und
       giften über das [3][„Zukunftsteam“], das Laschet nach viel Hin und Her
       Anfang September vorgestellt hat. Dessen prominentestes Mitglied Friedrich
       Merz, bringt sich für den Fall einer Niederlage schon heute als Kandidat
       für den Vorsitz von Bundestagsfraktion und Bundespartei in Stellung. Und
       zur sächsische Kultusministerin, die in Laschets schon fast wieder
       vergessenem „Zukunftsteam“ die Bereiche „Soziales und gleichwertige
       Lebensverhältnisse“ abdecken soll, heißt es in NRW nur: „Kennen Sie Frau
       Klepsch?“
       
       Die Sozialdemokraten dagegen können ihr Glück kaum fassen. Deutlich wird
       das bei einer Tour mit Karl Lauterbach. Der viermal direkt gewählte
       Abgeordnete wirkt fast schüchtern, als er begleitet von Sicherheitsleuten
       in Köln-Dellbrück aus einem schwarzen Auto steigt. Mit seinen Warnungen vor
       den Gefahren der Pandemie ist der Talkshow-Dauergast zum Hassobjekt von
       Coronaleugnern geworden, steht nach Morddrohungen und Angriffen unter
       Personenschutz.
       
       Unter seinem grauen Jackett trägt Lauterbach ein hellblaues, silber
       getupftes Hemd und einen roten Pullover, dazu schwarze Jeans. Mit seiner
       selbst zusammengetackerten doppelten FFP2-Maske wirkt der 58-Jährige ein
       wenig wie ein Nerd. Vorsichtig und zurückhaltend geht er über die
       Dellbrücker Hauptstraße, während sein Parteifreund Horst Noack für ihn
       Werbung macht. „Hier ist er, der Professor“, sagt der 72-Jährige, der seit
       40 Jahren in der SPD ist und elf Jahre Stadtrat war, zu einer Seniorin.
       „Ich weiß, ich hab ihn schon gewählt“, kontert die trocken.
       
       In Leverkusen-Opladen ist Lauterbach dagegen nicht selten ein Star. Eine
       grauhaarige Seniorin verbeugt sich vor ihm, eine andere bittet um ein
       Autogramm. Zur Frage, warum ihn die SPD mit dem aussichtslosen Listenplatz
       23 abgespeist hat, ob er also in der Partei unbeliebt sei, will Lauterbach
       trotzdem nichts sagen. „Kein Kommentar“, presst er nur hervor – und erklärt
       schnell, er sei „sehr optimistisch“, den Wahlkreis auch zum fünften Mal
       direkt zu gewinnen.
       
       Unwahrscheinlich ist das nicht. Zum großen Unmut seiner Konkurrentin Serap
       Güler wird Lauterbach von Prominenten wie BAP-Frontmann Wolfgang Niedecken,
       dem Investigativjournalisten Günter Wallraff und dem Star-Pianisten Igor
       Levit unterstützt. Auch das Netzwerk Campact trommelt für Lauterbach – und
       gegen Güler.
       
       Dabei gilt der Corona-Experte längst nicht überall als Teamplayer. Für die
       SPD-Bundestagsfraktion etwa spricht in Sachen Gesundheitspolitik offiziell
       Sabine Dittmar – doch mit seiner Medienpräsenz hat Lauterbach die weithin
       unbekannte Abgeordnete aus Unterfranken an die Wand gespielt. Die Frage der
       taz, ob er nach der Wahl Gesundheitsminister werden möchte, beantwortet er
       wohl auch deshalb nicht. Auf Youtube wird Lauterbach deutlicher: „Ich wäre
       gern Gesundheitsminister geworden. Vielleicht klappt es ja noch.“
       
       In Leverkusen wirkt der Mediziner locker, wenn er über Sachthemen reden
       kann. Dem 30-jährigen Altenpfleger David Tworek erklärt er, dass die SPD
       für Entlastung durch bessere Bezahlung und damit mehr Personal stehe. Als
       ein Coronaskeptiker das Ende aller Schutzmaßnahmen fordert, kontert er mit
       der Belastung der Krankenhäuser: „Im Uniklinikum Köln müssen schon heute
       wieder Herzoperationen verschoben werden.“
       
       Doch selbst Lauterbach, der so gern als One-Man-Show auftritt, nutzt die
       Sympathie, die Olaf Scholz genießt: Einer jungen Frau, die keine bezahlbare
       Wohnung findet, erklärt er den Vorschlag des SPD-Kanzlerkandidaten,
       jährlich 400.000 neue Wohnungen bauen zu lassen. „Machbar ist das. 1973 und
       1974 wurden sogar doppelt so viele Wohnungen gebaut.“
       
       Der bisherige Vizekanzler wird von den Wähler:innen offenbar für
       kompetent gehalten. „Olaf Scholz ist in einer viel komfortableren Situation
       als Armin Laschet“, sagt Norbert Kersting, Professor für vergleichende
       Politikwissenschaft an der Universität Münster. Durch sein „Image als
       Bewahrer von Kontinuität“ könne der Sozialdemokrat „wie der Vertreter einer
       Regierungspartei“ auftreten – während Laschet „wie ein
       Oppositionspolitiker“ wirke. Innerparteiliche Kritik am eigenen Kandidaten
       ist in der SPD deshalb gerade nirgendwo zu hören: „Die Sozialdemokraten
       halten im Gegensatz zur Union die Füße still“, sagt der
       Politikwissenschaftler Kersting – „schließlich verspricht Scholz, die SPD
       zu ihrem größten Sieg seit Jahrzehnten zu führen.“
       
       Wie sehr Scholz zieht, ist auch im Ruhrgebiet zu spüren. Im Wahlkreis Essen
       III hat der weithin unbekannte Sozialdemokrat Gereon Wolters keine
       schlechten Chancen, dem Bundestagsabgeordneten Matthias Hauer das einzige
       Direktmandat abzunehmen, das die Christdemokraten 2017 in einer der
       Kernstädte des Ruhrgebiets erobern konnten.
       
       Laut election.de liegen die Chancen des christdemokratischen Rechtsanwalts,
       das Direktmandat zu verteidigen, nur bei 17 Prozent. Der 55-jährige
       SPD-Mann Wolters dagegen wagt zu hoffen. Bundestagsabgeordneter zu werden,
       sei für ihn „ein Lebenstraum“, sagt Wolters. Er ist Professor für
       Strafrecht an der Ruhr-Universität Bochum – und stellvertretendes Mitglied
       des NRW-Verfassungsgerichts in Münster. Als Newcomer setzt er erst einmal
       auf lokalpolitische Themen: Die Autobahn A40, die Essens Mitte
       zerschneidet, will er unter einem Deckel verschwinden lassen. Der
       öffentliche Nahverkehr sei im ganzen Ruhrgebiet „lächerlich“ schlecht
       ausgebaut – dabei müsse Essen möglichst schnell klimaneutral werden.
       Sozialpolitisch sei ein Mindestlohn von 12 Euro längst überfällig.
       
       Dass Wolters tatsächlich punkten könnte, zeigt sich im Wahlkampf in Essens
       mit Abstand reichsten Viertel Bredeney. Vor einem auf edel gemachten Edeka
       verteilt der Sozialdemokrat Rosen und Infomaterial. In der Tiefgarage
       stehen teure Autos, darunter ein riesiges SUV im Wert von 197.800 Euro.
       Nicht unbedingt die klassische SPD-Klientel, könnte man meinen. Trotzdem
       stößt der Professor von der SPD auch hier nicht nur auf Ablehnung.
       
       ## Scholzʼ Strahlkraft wirkt bis Essen-Bredeney
       
       „Erst einmal müssen alle Sozialleistungen auf den Prüfstand“, fordert zwar
       der 82 Jahre alte Udo Burger, Steuerberater im Ruhestand – SPD werde er
       „nie“ wählen. „Ich bin bei einem großen Unternehmen im Management“, sagt
       dagegen eine 41-Jährige, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will.
       Trotzdem sei ihr die „soziale Komponente“ wichtig: „Ich bin gegen prekäre
       Beschäftigung“, erklärt sie. Deshalb schwanke sie zwischen Grünen und SPD.
       „Ich hoffe, Herrn Laschet zu verhindern.“ Scholz sei ihr dagegen
       „sympathisch“. Die Strahlkraft des SPD-Kandidaten – sie wirkt selbst im
       Nobelstadtteil Bredeney.
       
       CDU-Kandidat Hauer geht Scholz deshalb direkt an. Am Montag und am Dienstag
       ist der 43-jährige Rechtsanwalt nicht wie geplant im Wahlkampf in Essen
       unterwegs, sondern in Berlin. Ein fest vereinbartes Treffen mit der taz
       platzt deshalb.
       
       Denn im Bundestags-Finanzausschuss hat Hauer einen Namen. In der Hauptstadt
       will er klarmachen, dass der SPD-Kanzlerkandidat für „Versäumnisse bei der
       Geldwäsche-Einheit FIU“ verantwortlich sei. Die Kölner Behörde, die Scholz
       formal untersteht, soll bei kriminellen Geldverschiebungen weggeschaut
       haben. In einer spektakulären Aktion hat die Staatsanwaltschaft Osnabrück,
       geführt vom Christdemokraten Bernard Südbeck, das Bundesfinanzministerium
       deshalb durchsuchen lassen. Ob die Aktion nötig war oder ob ein
       Oberstaatsanwalt, der in der CDU gut vernetzt ist, Laschet
       Wahlkampfmunition liefern wollte, ist umstritten.
       
       Der Essener Christdemokrat Matthias Hauer jedenfalls ist mit Eifer an der
       Sache dran: „Das mediale Interesse ist groß“, sagt er am Telefon. Auf den
       Vizekanzler der Großen Koalition hat er sich schon seit Monaten
       eingeschossen: Auch für das Versagen der Bankenaufsicht Bafin im
       Wirecard-Skandal trage der Finanzminister „die politische Verantwortung“,
       schreibt Hauer auf seiner Homepage – jetzt will er dem SPD-Kandidaten mit
       den Geldwäschevorwürfen entscheidende Prozentpunkte abnehmen: „Das ist dem
       nicht so lieb, dass das vor der Wahl noch einmal Thema wird“, freut sich
       der unter Druck stehende Christdemokrat.
       
       Berlin statt Essen, Kampagne statt Straßenwahlkampf. Die Zerstörung von
       Scholz – [4][für die CDU ist das die letzte Chance].
       
       23 Sep 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /CDU-Politikerinnen-mit-Zukunft/!5782308
   DIR [2] /Serap-Gueler-ueber-Vorstoss-aus-Berlin/!5747792
   DIR [3] /Kanzlerkandidat-Laschet-stellt-Koepfe-vor/!5798942
   DIR [4] /CDU-und-Rot-Rot-Gruen/!5794069
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andreas Wyputta
       
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