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       # taz.de -- Wahlprogramm von CDU/CSU: Von wegen Maß und Mitte
       
       > Geht es nach der Merz-Söder-Union, wird das Land nach der Bundestagswahl
       > ein anderes sein – mit reicheren Reichen, ärmeren Armen, ohne
       > Geflüchtete.
       
   IMG Bild: Friedrich Merz beim sogenannten Deutschlandtag der sogenannten Jungen Union, Ende Oktober
       
       Sieben Wochen vor der Wahl scheint sicher, dass die Union der nächsten
       Regierung angehören wird. Wahrscheinlich wird sie diese auch anführen. Wie
       ticken die Christdemokraten 2025?
       
       Bereits der erste Satz des Wahlprogramms der Union weist die Richtung:
       „Unsere Bundesrepublik Deutschland ist eine großartige Erfolgsgeschichte:
       Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Weltmeistertitel, Westbindung,
       Friedliche Revolution, Wiedervereinigung und Aufbauleistung der
       Ostdeutschen, Wohlstand“. Der Satz geht noch weiter. In diesem
       Erfolgsstakkato ohne Verben, aber mit viel W wie „Westen“, wirkt die
       „Aufbauleistung der [1][Ostdeutschen]“ schon sprachrhythmisch wie ein
       Stolperdraht.
       
       Die Union ist wieder eine westdeutsche Männerpartei mit einer Neigung zu
       zackigen Sätzen geworden, in denen kein Zweifel nisten darf. „Machen statt
       reden! Regieren statt streiten! Mit ‚Made in Germany‘ wieder an die
       Spitze!“, dröhnt es. Weg mit dem Relativsatz! Her mit dem Ausrufezeichen!
       Die zugespitzte Formel dieses „Politikwechsel für Deutschland“ betitelten
       Programms könnte lauten: Deutschland früher toll. Ampel schlimm, Union
       besser.
       
       Damit es wieder aufwärts geht, will die Union Steuern senken. Der Soli für
       Reiche soll weg, der Spitzensteuersatz erst für höhere Einkommen gelten.
       Unternehmen sollen weniger Steuern zahlen. Die Stromsteuer soll gestrichen
       werden. Wenn das realisiert wird, klafft ein Loch von fast 100 Milliarden
       Euro im Haushalt. [2][Weil die Schuldenbremse für die Union in Stein
       gemeißelt ist,] fragt sich, wie das funktionieren soll. Bei der Vorstellung
       des Programms beschied Friedrich Merz kurz und knackig, das sei gar kein
       Problem: Der Staat gebe „50 Milliarden für Flüchtlinge, 50 Milliarden für
       Bürgergeld“. Da könne man zwar nicht alles streichen, aber viel.
       
       ## Beunruhigendes Verhältnis zu Fakten
       
       Im Wahlkampf wird nicht immer die reine Wahrheit gesagt. Aber hier
       offenbart sich ein beunruhigend dehnbares Verhältnis zu den Fakten. Für
       Geflüchtete gibt der Staat nicht 50, sondern weniger als 30 Milliarden aus.
       Bürgergeld oder Grundsicherung können nicht um zweistellige
       Milliardenbeträge gekürzt werden.
       
       Das Bundesverfassungsgericht hat untere Grenzen definiert, weil die
       Bundesrepublik laut Grundgesetz ein „sozialer Rechtsstaat“ und nicht der
       Nachtwächter des neoliberalen Manchester-Kapitalismus ist. Daran ändern
       erfreulicherweise auch die Hauruck-Hauptsätze der Union nichts. Zu
       suggerieren, man könne die Bürgergeldkasse einfach plündern, ist unlauter.
       Die Union weiß, dass die Weiterbildung von Arbeitslosen genau das Geld
       kostet, mit dem sie die Reichen zu beglücken verspricht.
       
       Die Senkung der Unternehmenssteuer ist zwar ein bekannter Textbaustein der
       Unions-Programmprosa. Doch nimmt man all diese Steuerpläne zusammen, ist
       dies das wirtschaftsliberalste Programm der Union seit 2005. Es erinnert an
       die Heilslehre des Neoliberalismus: Gebt den Reichen, dann wächst die
       Wirtschaft, die Steuern sprudeln, und alle sind glücklich.
       
       „Wirtschaft ist nicht alles, aber ohne Wirtschaft ist alles nichts“, heißt
       es im Programm. Die Union denkt dabei unter anderem an Mehrwertsteuersätze
       für Gaststätten und versucht ihre etwas unernst wirkende neoliberale
       Gläubigkeit rhetorisch mit existenziellem Ernst aufzudonnern. Die Kirchen –
       die auf 79 Seiten dreimal pflichtschuldig erwähnt werden – spielen im
       aktuellen Programm der Union keine Rolle. Die Union glaubt dafür umso
       entschlossener an die Wunderkräfte des Marktes.
       
       Die geplanten Steuersenkungen kommen nur zu einem kleinen Teil der Mehrheit
       zugute. Die Reichen, die oberen zehn Prozent, werden hingegen großzügig mit
       rund 50 Milliarden Euro mehr pro Jahr bedacht. Die ohnehin große Kluft
       zwischen der unteren Hälfte und den oberen zehn Prozent soll somit größer
       werden. Um das fair zu finden, muss man wohl zu jener Gruppe gehören.
       
       ## Strenger AfD-Geruch
       
       Zugleich beschwört die Union den „Zusammenhalt unserer Gesellschaft“. Wie
       passt das zusammen? Die Union hat einen Begriff von Zusammenhalt, der eher
       das Gegenteil meint: Abgrenzung. Denn der Zusammenhalt wird in ihrer Sicht
       der Dinge durch das Bürgergeld bedroht, dessen Abschaffung „den
       Zusammenhalt stärken“ soll. Das Bürgergeld habe für böses Blut gesorgt,
       weil es stärker gestiegen sei als die Löhne.
       
       Schlichtweg verschwiegen wird dabei, dass die Union das Bürgergeld mit
       beschlossen hat. Verschwiegen wird auch, dass die Inflation – 20 Prozent in
       vier Jahren – Ärmere härter getroffen hat als die Mittelschicht. Doch für
       die Union ist das Bürgergeld die Chiffre für alles Üble, mit dessen Ende
       luftigste Steuerversprechungen bezahlt werden sollen.
       
       Das Bürgergeld taucht stets als „sogenanntes“ auf und wird zusätzlich in
       Anführungszeichen gesetzt, so, als wäre es ein stinkender Putzlumpen, den
       man sich vom Leib halten muss. All das ist Ressentimentbewirtschaftung auf
       dem Rücken Schwächerer, die streng nach AfD riecht.
       
       Die zweite Gefahr für den Zusammenhalt kann in den Augen der
       Christdemokraten nur durch die deutsche „Leitkultur“ gebannt werden, zu der
       sich auch MigrantInnen gefälligst zu bekennen haben. Kurzum: Unter
       Zusammenhalt versteht die Union die Abwehr von allem, was dem biodeutschen
       Kollektiv bedrohlich erscheinen könnte – nämlich faule, gierige Arme und
       MigrantInnen.
       
       Das zweite Hindernis, das für die erhoffte baldige Rückkehr in das goldene
       Zeitalter der vielen „W“ beseitigt werden muss, sind nach Deutschland
       geflüchtete Menschen. „Wir setzen einen faktischen Aufnahmestopp sofort
       durch“, heißt es grimmig entschlossen.
       
       Wenn Deutschland Flüchtlinge in Zukunft zurückweist und ihnen das Recht
       verweigert, einen Asylantrag zu stellen, verstößt das gegen EU-Recht.
       Offenbar will die Union darüber so nassforsch hinweggehen wie Herbert
       Kickl, Chef der [3][rechtsextremen FPÖ], der sagte: „Wir würden es einfach
       machen.“ Wenn Deutschland, das größte, mächtigste Land in der Europäischen
       Union, das außerdem die meisten Grenzen zu anderen EU-Staaten hat, dies
       praktizieren würde, könnte das Schengen-Abkommen implodieren.
       
       ## Zur „Remigration“ ist es nicht mehr weit
       
       Die Union aber strebt auf Biegen und Brechen das Ende des Asylrechts an.
       Asyl in Deutschland soll nur noch „in einem sicheren Drittstaat“ (wie
       Ruanda) beantragt werden können. Wenn es gewährt wird, gilt es nicht in
       Deutschland, sondern in Ruanda.
       
       Dieser Exitus des Asylrechts wird als moralische Großtat verkauft, die „das
       menschenverachtende Geschäft der Schlepper“ zerschlagen würde. Von da ist
       es zur „Remigration“, die die AfD proklamiert, nicht mehr weit. Faktisch
       ist das Drittstaaten-Modell eher untauglich. Die Versuche von
       Großbritannien und Italien, Geflüchtete nach Ruanda und Albanien
       abzuschieben, wurden teils von Gerichten gestoppt und haben außer hohen
       Kosten nicht viel bewirkt.
       
       Diese AfD-affine Rhetorik zeigt, dass die Merz-Söder-Union die Merkel-Ära
       nach 2015 rückgängig machen will. Sie will auch das Erbe der Ampel –
       Cannabislegalisierung und schnellere Einbürgerung, das Heizungs- und
       Selbstbestimmungsgesetz – abwickeln. Auch das ist ein Bruch mit dem auf
       Kontinuität ausgerichteten bundesdeutschen Modell, in dem selten Gesetze
       früherer Regierungen gekippt werden.
       
       Dies ist eine neue Union mit einem radikaleren, härteren Tonfall. Im
       Wahlprogramm 2017 hieß es noch: „Heute leben wir im schönsten und besten
       Deutschland, das wir je hatten.“ Nach diesem biedermeierlichen Intro war
       klar, dass es in diesem „schönsten und besten“ Land naturgemäß nur Details
       zu verbessern gab.
       
       Jetzt herrscht eine mitunter kopflose Tabula-rasa-Rhetorik, die den
       unionstypischen Maß-und-Mitte-Sound übertönt. So ist im Programm etwa zu
       lesen, dass die „individuelle Mobilität der Inbegriff von Freiheit“ sei.
       Daher müsse das Verbrenner-Aus fallen, das Tempolimit auf Autobahnen
       verhindert, der Parkplatz in der Stadt verteidigt werden.
       
       „Inbegriff“ bedeutet die vollkommene, absolute Verkörperung von etwas, also
       dessen Wesen. Man sollte annehmen, dass demokratische Parteien die in der
       Verfassung verbrieften Grundrechte für den Inbegriff der Freiheit halten.
       Für die Union besteht das Wesen der Freiheit heute darin, mit 200
       Kilometern über die Autobahn zu brettern und die Städte mit SUVs
       vollzuparken. Kaum zu glauben.
       
       ## Mit Ausrufezeichen in die Vergangenheit
       
       Politik in der Bundesrepublik ist ein langer, ruhiger Fluss. Es gab seit
       1949 erst einen vollständigen Machtwechsel, 1998. Sonst regierte immer eine
       Partei weiter. Durchregieren, die geistig-moralische Wende, die neoliberale
       Revolution fanden so wenig statt wie eine linke Erstürmung der Zitadelle.
       Für die Union zählten Pragmatismus und Machterhalt zudem meist mehr als
       Programme.
       
       Also alles nicht so schlimm? Der rabulistische Ton – Ampel ausradieren,
       MigrantInnen abschrecken, Reiche beschenken – weckt schon den Verdacht,
       dass hier der Bruch mit der Konsensdemokratie, neudeutsch „Disruption“,
       anvisiert wird. Die Republik soll mit Ausrufezeichen in eine Vergangenheit
       mit Verbrenner-Autos und Leitkultur gebeamt werden.
       
       Die Union wird wohl zusammen mit der SPD oder den Grünen regieren. Wenn sie
       dieses Wahlprogramm wirklich ernst meint, kann sie „Regieren statt
       streiten!“ schon mal streichen.
       
       4 Jan 2025
       
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