URI: 
       # taz.de -- Muscle Gap: Der Bizeps gehört dem Patriarchat
       
       > Das Maßregeln weiblicher Muskeln dient dem patriarchalen Machterhalt.
       > Denn eine schwache Frau lässt sich besser kontrollieren.
       
   IMG Bild: Bodybuilding Competition in Budapest: „Man muss mit diesem Ideal schon seine Frau stehen“
       
       Mit der Bewegung für mehr Körperakzeptanz zu Beginn der 2010er verbanden
       viele Frauen die Hoffnung, endlich Frieden mit dem eigenen Körper schließen
       zu dürfen. Nach dem Hungern, den Essstörungen und der endlosen Diäten für
       den Heroin-Chic war es Zeit für Heilung. [1][Doch nun ist der Skinny-Trend
       der 90er Jahre zurück]. Dank der Abnehmspritze ist der gesellschaftliche
       Druck, dünn zu sein, gerade wieder so präsent, als hätte es Body Positivity
       nie gegeben.
       
       Das hartnäckige Festhalten an der filigranen weiblichen Silhouette ist
       gesellschaftlich wohl auch deswegen so schwer zu überwinden, weil die
       körperliche Unterlegenheit von Frauen zum Gründungsmythos des Patriarchats
       gehört. In der biologistischen Erzählung gilt der Mann als
       leistungsfähiger, stärker, dominanter. Sein Gegenstück ist das schwache
       Geschlecht – klein, zart und beherrschbar. Die Idee vom minimierten
       Frauenkörper ist kein Zufall. Das Gebot vom Dünnsein ist auch eine
       Disziplinierungsstrategie: Es hält Frauen buchstäblich klein.
       
       Wenn Frauen systematisch auf körperliche Schwäche normiert werden, nutzt
       das einem Erziehungsprogramm, das den weiblichen Körper nicht bloß formt,
       sondern vielmehr zähmt. Wer von Frauen erwartet, zierlich und verletzlich
       zu bleiben, verbietet ihnen letztlich auch den Zugang zu Kraft und Muskeln.
       
       Bereits 1974 zeigte die US-amerikanische Feministin Ann Crittenden Scott in
       ihrem Essay „Schließen wir den Muskel-Gap“: Körperliche Unterlegenheit
       wurde Frauen historisch antrainiert. Die Größe des Bizeps ist nicht nur
       Biologie, sondern auch Kultur. „Von allen Formen der Unterdrückung, die im
       Lauf der Jahrhunderte des Paternalismus schwer auf der Frau lasteten, war
       die Verleugnung ihrer Körperkraft vielleicht die perfideste“, schreibt
       Crittenden Scott. Der Begriff „Muskel-Gap“ verdeutlicht, wie Vorstellungen
       von Weiblichkeit Machtverhältnisse zementieren. Weibliche Kraft wird nicht
       nur ignoriert, sondern unterdrückt.
       
       ## Spielraum für weibliche Muskelmasse bleibt klein
       
       Es geht bei der Frage nach dem idealen Frauenkörper also nie nur um
       Ästhetik, sondern immer auch um Macht. Die dünne Frau ist wehrlos und
       deswegen besser zu beherrschen. Kein Wunder also, dass trotz des wachsenden
       Interesses vieler Frauen am Krafttraining der Spielraum für weibliche
       Muskelmasse klein bleibt. Muskeln sind nur erlaubt, wenn das feminine
       Erscheinungsbild weiterhin schlank, sanft und begehrenswert bleibt.
       
       In den 2010ern galt der aufkommende Trend „Strong is the new skinny“ als
       empowernde Gegenbewegung zum Magerwahn. Doch auch hier sind patriarchale
       Narrative lediglich in den sportlichen Selbstoptimierungsgedanken des
       Neoliberalismus übertragen worden.
       
       Die erfolgreichsten deutschsprachigen Fitnessinfluencerinnen wie Pamela
       Reif, Lisa del Piero und Anna Engelschall symbolisieren mit ihren
       trainierten Körpern weniger Kraft als Disziplin und Sexyness. Der Sixpack,
       die wohlgeformten Beine und ein runder Po sind Trainingserfolge, die die
       Attraktivität unterstreichen in einer Welt, in der für Frauenkörper nicht
       Funktionalität im Vordergrund steht, sondern Ästhetik: Bauch, Beine, Po
       zählen zu den am stärksten erotisierten Körperzonen und dürfen sichtbar
       trainiert sein. Bizeps, Rücken und Schultern sind hingegen mit
       Durchsetzungskraft assoziiert und gelten als männliche Muskelgruppen.
       
       Training macht Frauen also schön und Männer stark. Muskeln sind ein Symbol
       für Männlichkeit, die sich besonders in Zeiten wankender Rollenbilder
       behaupten muss. Aus diesem Grund gelten Frauen mit sichtbarer Muskulatur
       oft als „vermännlicht“. Um zu beschwichtigen, inszenieren viele
       Sportlerinnen betont Feminität: Lange Haare, Make-up und sexy
       Sportklamotten sind die Versicherung, dass sie nicht trainieren, um die
       binäre Geschlechterordnung zu stürzen.
       
       ## Wer von der Norm abweicht, zahlt dafür einen Preis
       
       Wer von der normierten Beauty- und Muskelästhetik abweicht, zahlt seinen
       Preis – wie die US-Gewichtheberin Sarah Robles, die trotz Olympiagold
       lange ohne Sponsoring blieb und 2012 in einem Interview zur Finanzierung
       ihrer Laufbahn sagte: „Du bekommst ein Sponsoring, wenn du ein großartiger
       Kerl bist oder ein Mädchen, das im Bikini gut aussieht – aber nicht, wenn
       du gebaut bist wie ein Kerl.“
       
       Kein Wunder, dass sichtbare Armkraft unter vielen Frauen im Breitensport
       noch immer als Trainingsfehler gilt. Viele Frauen befürchten, durch
       gezieltes Hanteltraining körperlich „zu massiv“ zu werden. Auf zahlreichen
       Fitness-Seiten und Social-Media-Accounts zu Muskelaufbau und körperlicher
       Stärke ist daher Aufklärungsarbeit nötig. Sie ist auch der Versuch,
       weibliche Kraft aus der Schublade des Unerwünschten zu holen und ihr einen
       selbstverständlichen Platz zu geben.
       
       Über die Sorge, wegen eines Workouts aus Versehen nicht mehr in die
       Seidenbluse zu passen, kann die Bodybuilderin Elisabeth Kammerer nur müde
       lächeln. Sie weiß, dass es wesentlich mehr braucht, um eine „Muskel-Barbie“
       zu werden. Damit meint sie jenes extrem muskulöse Erscheinungsbild, auf das
       sie gerade selbst hinarbeitet, als wir uns über die gesellschaftliche
       Wahrnehmung von Frauen mit demonstrativen Muskeln unterhalten. „Man muss
       mit diesem Ideal schon seine Frau stehen“, sagt sie, „vor allem, weil
       Männer sich nicht selten gekränkt fühlen, wenn mein Bizeps größer ist als
       ihrer.“
       
       ## Patriarchale Strukturen in Vorstellungen von Weiblichkeit
       
       Ihr Körper ist das Ergebnis eines jahrelangen und extrem fordernden
       Leistungssports. Er hat viel mit Selbstdisziplin und Selbstermächtigung zu
       tun. Die sportliche Leistung des Bodybuildings wird aber oft als eitle
       Übertreibung abgewertet. Wohl auch, weil die ausgeprägten Muskeln selbst
       das sportliche Ziel sind und kein Nebenprodukt eines ambitionierten
       Wettkampfsports. Der Körper einer Bodybuilderin bricht demnach ganz bewusst
       mit dem schlanken Ideal und gilt deswegen als merkwürdige Absage an die
       patriarchale Bestimmung als Objekt der Begierde.
       
       Der Muskel-Gap zeigt eindrücklich, wie tief patriarchale Strukturen in
       unseren Vorstellungen von Weiblichkeit verankert sind. Stärke und
       Muskelaufbau sind für Frauen nicht einfach ein Fitnessziel, sie sind eine
       Kampfansage an alte Machtverhältnisse. Wenn Frauen sich von der Pflicht
       befreien, körperlich klein und zierlich zu sein, holen sie sich die Hoheit
       über ihren eigenen Körper zurück.
       
       5 Aug 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Schoenheitsideale-in-der-Modewelt/!6044396
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Andrea Glaß
       
       ## TAGS
       
   DIR Körper
   DIR Frauen
   DIR Sexismus
   DIR Patriarchat
   DIR Muskeln
   DIR Social-Auswahl
   DIR Reden wir darüber
   DIR Anti-Feminismus
   DIR Muskeln
   DIR TikTok
   DIR Diäten
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Anti-Feminismus auf dem Land: „Schiefheilung“ bedrohter Männlichkeit
       
       Die Ablehnung von Feminismus geht oft einher mit der Idealisierung
       ländlicher Idylle. Über die Verbindungen von Autoritarismus und
       „Provinzialität“.
       
   DIR Arte-Doku „Muskelmania“: Flex für den Frieden
       
       Die Arte-Doku „Muskelmania“ über den Siegeszug des Krafttrainings hat viele
       interessante Facetten – und hinterlässt dennoch eine Leerstelle.
       
   DIR Tiktok-Trend „Skinny Girl Mindset“: Die Skinny Girls rufen zum nächsten Schlankheitswahn
       
       Schon wieder soll man dünn sein, diesmal angeblich ohne Essverbote und dank
       der richtigen Lebenseinstellung. Manche feiern das als Empowerment.
       
   DIR Schönheitsideale in der Modewelt: Zurück zu Size Zero
       
       Die Modewelt hat gezeigt: Body Positivity ist tot und dünn sein wieder das
       Ideal. Das Ende der Bewegung lässt sich auch mit dem Ozempic-Boom erklären.