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       # taz.de -- Weite Felder mit Wildwuchs
       
       > Live ist sie leider gerade nicht zu hören, die Berliner Kraut- und
       > Jazzszene. Mehr als nur ein Ersatz dafür sind die „Kraut Jazz
       > Futurism“-Kompilations von Labelmacher und Musiker Mathias Modica. Gerade
       > ist Teil zwei erschienen
       
   IMG Bild: Nicht nur musikalisch weltoffen im Kollektiv: Spiritczualic Enhancement Center
       
       Von Jens Uthoff
       
       Wehmütig erinnert man sich dieser Tage daran, wie das war, als man dicht an
       dicht in kleinen Clubs und Bars wie der [1][Donau115], dem Valentin
       Stüberl, der Schrippe Hawaii und vielen anderen Off-Spaces der Stadt stand.
       Abend für Abend konnte man in Prä-Corona-Zeiten Orte wie diese aufsuchen,
       ohne zu wissen, was einen genau erwartet. Oft war es experimentelle und
       angejazzte Musik, oft hatten die Veranstaltungen intimen und familiären
       Charakter, oft wechselten die Konstellationen, in denen die freien Klänge
       dargeboten wurden. Und sehr oft war man geflasht von dem, was man sah und
       hörte.
       
       Einen Einblick in diese kaum einzugrenzenden Szenen, die (nicht nur) in
       Berlin zuletzt jede Menge Kraut- und Jazzgewächse hervorgebracht haben,
       will Labelmacher und Musiker Mathias Modica mit seinen „Kraut Jazz
       Futurism“-Kompilationen geben. Modica betreibt mit Gomma Records, Toy
       Tonics und Kryptox Records (wo die Reihe erscheint) gleich drei Labels.
       Zudem ist er ein umtriebiger Produzent und hat unter dem Alias Munk Musik
       gemacht, im Mai soll ein Soloalbum von ihm unter seinem bürgerlichen Namen
       erscheinen. Modica lebte in München, New York und Marseille, bevor er 2015
       nach Neukölln zog. Dort traf er auf „viele wilde Bands und lose Gruppen,
       die irgendwo zwischen den Szenen arbeiteten“, lauschte gebannt so mancher
       Freejazz-Jam-Session und fand mehr und mehr Gefallen an den oft
       internationalen Gruppen, wie er in einer Mail schreibt.
       
       Vor zwei Jahren veröffentlichte Modica bereits [2][den ersten Teil des
       Samplers] und brachte darauf so unterschiedliche Acts wie das Jazzensemble
       Andromeda Mega Express Orchestra, die Kraut-Psychedelic-Combo Oracles und
       Niklas Wandt mit seinen omniversalen Klängen zusammen. Nun folgt [3][„Kraut
       Jazz Futurism Vol. 2“] – und diese 15 Stücke machen in erster Linie Lust,
       sich all den Wildwuchs näher anzuschauen, der da gerade gedeiht.
       
       Die Sampler beschränken sich zwar nicht auf Berliner Bands, aber ein großer
       Teil von ihnen ist hier zu Hause. Auch nicht mehr gänzlich unbekannte Namen
       sind darunter – da wäre zum Beispiel Wanubalé aus Berlin und Potsdam zu
       nennen. In [4][„Hickups“ erzeugt das neunköpfige Kollektiv] mit seinem
       breakreichen Sound und seinen ausgefeilten Arrangements, mit Bläsern und
       hüpfenden Bässen einen ordentlichen Groove, der auch in heimischen Gefilden
       zum Tanzen anregt. Elemente von Funk, Afrobeat, Soul und Jazz finden hier
       zusammen.
       
       In enge Genrekategorien lassen sich die wenigsten Gruppen fassen. Insofern
       passen die Anspielungen an Krautrock und Jazz im Samplertitel auch gut.
       Beide Begriffe sind letztlich sehr ungenau, schließen ein weites
       musikalisches Feld ein – und bezeichnen überdies auch eine Haltung zur
       Musik, etwa das Arbeiten im Kollektiv, musikalische Offenheit,
       Weltoffenheit. Die Band [5][Spiritczualic Enhancement Center], hier zu
       hören mit der abgespacten Synthie-Nummer „360° of Harmony“, ist das beste
       Beispiel dafür. Der Zusammenschluss von Musikern aus Deutschland, Israel,
       Iran, USA, der Türkei, England, Russland und dem Balkan trifft sich
       häufiger zu Jams und Sessions und nimmt dabei Songs auf – man darf sich
       diese Jams als angewandte musikalische 360-Grad-Harmonie vorstellen.
       
       Der schon erwähnte [6][Niklas Wandt,] von dem man auch nicht so recht weiß,
       in wie vielen Bands er eigentlich spielt (zuletzt ist er mit dem Duo
       Neuzeitliche Bodenbeläge in Erscheinung getreten), ist auf dem zweiten
       Sampler erneut vertreten – nur diesmal mit dem Projekt Transport. Deren
       Song mit dem sprechenden Titel „Tanz um den Melkeimer“ klingt, als sei er
       bei einer rituell anmutenden, tribalistischen Sause entstanden, bei der man
       gerne dabei gewesen wäre.
       
       Daneben ist der Jazz in all seinen Spielarten und Schattierungen zu hören,
       mal gibt es einen loungigen Entwurf wie bei der Band Modha („Harzer
       Straße“), mal wird eine Abbiegung Richtung Postrock genommen wie bei Kuhn
       Fu („The Flounder“), dann wieder wendet man sich dem Math Rock zu wie das
       Münchener Kollektiv Ark Noir („Arkomplex“). Und gleich zu Beginn regiert
       der poppige Jazz bei dem Contrast Trio („In The Bottle“) aus Frankfurt am
       Main.
       
       Die „Kraut Jazz Futurism“-Reihe will Mathias Modica angelehnt wissen an die
       „We Out Here“-Kompilation aus der Londoner Szene.
       
       Dass die Berliner Experimentalszene im Vergleich zum britischen Jazz noch
       nicht so gehypt ist, liegt daran, dass sie teils viel sperriger (auf diesen
       Samplern sind eher noch die zugänglicheren Sachen zu hören) und auch bei
       Weitem nicht so kommerziell ausgerichtet ist. Die Räume, in denen diese
       Musik stattfindet, gleichen eher Laboratorien, eine Verwertungslogik ist
       den meisten fremd. Möge es auch nach Corona so bleiben!
       
       Weitere Teile von „Kraut Jazz Futurism“ sollen folgen, so Mathias Modica.
       Vieles bekomme man ja auch gar nicht mit, er grabe und forsche selbst stets
       weiter. „Man kann Tage auf Bandcamp oder Instagram verbringen und dringt in
       immer neue Welten vor“, sagt er. Hoffentlich lässt er uns weiter dran
       teilhaben.
       
       Various Artists: „Mathias Modica presents Kraut Jazz Futurism Vol. 2“
       (Kryptox Records/!K7)
       
       27 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Jazz-Euphorie-in-Berlin/!5404294
   DIR [2] https://kryptox-music.bandcamp.com/album/mathias-modica-presents-kraut-jazz-futurism
   DIR [3] https://kryptox-music.bandcamp.com/album/mathias-modica-presents-kraut-jazz-futurism-vol-2
   DIR [4] https://wanubale.bandcamp.com/track/hickups
   DIR [5] https://enhancementcenter.bandcamp.com/
   DIR [6] https://niklaswandt.com/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Jens Uthoff
       
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