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       # taz.de -- Wende in den USA nach den Wahlen: Die Versöhnung fällt aus
       
       > Biden wird die Spaltung nicht überwinden, denn weder Republikaner noch
       > Demokraten wollen das. Das ist vielleicht auch okay.
       
   IMG Bild: Von wegen Puzzlespaß
       
       Versöhnung, Vergebung, Heilung: das sind die unverkennbar religiösen
       Beschwörungsformeln, die derzeit aufgerufen werden, wenn es um die
       Erwartungen geht, mit denen [1][Joe Biden] im Januar 2021 sein neues Amt
       antreten wird. Es heißt, er solle das Land nun wieder einen. Halten wir uns
       nicht lange mit der intellektuellen Selbstverständlichkeit auf, dass
       natürlich kein einzelner Politiker beenden kann, was strukturell angelegt
       ist und sich über Jahrzehnte hochgeschaukelt hat.
       
       Interessanter ist, dass die Idee der Versöhnung und der Überwindung der
       Gegensätze selbst bereits in sich widersprüchlich und in gewisser Weise
       sogar verlogen ist. Bei den [2][70 Millionen Wählern, die Donald Trump ihre
       Stimme gegeben haben], dürfte sich das Bedürfnis nach Versöhnung ohnehin in
       Grenzen halten. Vermutlich gibt es auch unter ihnen einige, die der
       permanente Kulturkampf mürbe gemacht hat und die daher vielleicht bereit
       wären, der Sache eine Chance zu geben.
       
       Der überwiegende Teil dieser Wähler aber, darunter vor allem das politisch
       aktive und daher tonangebende Element, interpretiert jede ausgestreckte
       Hand eher als weitere Kriegserklärung. Um das zu erkennen, muss man nicht
       einmal jene schaurigen Umfrageergebnisse studieren, die schon jetzt zeigen,
       dass der Wahlsieg Joe Bidens für viele Republikaner auf irgendwie
       illegitimen Wegen zustande gekommen ist.
       
       Die jüngste Geschichte verrät uns wohl am besten, welches Stück da bald
       seine Wiederaufführung erleben wird. [3][Barack Obamas Weg ins Weiße Haus
       2008] war schließlich förmlich gepflastert mit der Erlösungsbotschaft von
       der inneren Wiedervereinigung des Landes. Es gebe kein konservatives und
       kein liberales Amerika, meinte Obama damals, sondern natürlich nur: die
       Vereinigten Staaten von Amerika.
       
       ## Schon Obama scheiterte an der Mission
       
       Nach seinem Wahlsieg behielt er den von seinem republikanischen Vorgänger,
       George W. Bush, ins Amt eingesetzten Verteidigungsminister, und Teile
       seiner Reform der Krankenversicherung, [4][Obamacare], bauten auf Ideen
       auf, die aus konservativen Denkfabriken stammten. Gefruchtet hat nichts
       davon. Ein nicht unbeträchtlicher Teil der republikanischen Parteibasis
       versank schon damals in einem Strom von Verschwörungstheorien.
       
       Dem Verlierer fällt die Versöhnung ohnehin immer schwerer als dem Gewinner,
       besonders aber in diesem Fall, da Obamas Sieg signalisierte, dass die
       demografischen Verschiebungen im Land jetzt im Zentrum der Macht angelangt
       waren. Und für viele Konservative hatte Obamas durchaus kalte
       technokratische Attitüde – die Idee, dass es eine übergeordnete Vernunft
       gäbe und der Streit der Parteien nur störendes Beiwerk – auch eine
       bedrohlich-hegemoniale Note, die jeden Widerspruch zum rein irrationalen
       Rückzugsgefecht erklärte.
       
       Fest steht, dass deshalb Amerikas Konservative in ihren Schützengräben
       blieben. Und genau dort werden sie dieses Mal – nach zwölf weiteren Jahren
       des Hasses – natürlich erst recht ausharren, mutmaßlich bestens versorgt
       von den Empörungsmaschinen der konservativen Medien, die schon gar kein
       Interesse am Abflauen der Spannungen haben, da sich mit der politischen
       Hysterie der letzten drei Jahrzehnte eine Menge Geld verdienen ließ.
       
       Beim linksliberalen Amerika ist die Sache psychologisch ungleich
       komplizierter. Denn dort ist, dem „Scheitern“ Obamas zum Trotz, die
       Vorstellung einer Depolarisierung noch immer präsent. Vermutlich war das
       sogar einer der Gründe, warum sich am Ende der Vorwahlen Joe Biden
       durchsetzte: weil man glaubte, dass das Land unter ihm zur Ruhe käme, und
       hoffte, er würde nicht ganz so toxische Reaktionen bei der politischen
       Rechten auslösen wie Hillary Clinton und Obama.
       
       Indes, zahlreiche Fraktionen innerhalb der Partei sehen die Sache ganz
       anders. Weder für die [5][Aktivisten von Black Lives Matter] noch für den
       [6][sozialistischen (oder auch sozialdemokratischen) Flügel der Partei]
       steht die Aussöhnung an erster Stelle. Im Gegenteil: Hier geht es ja darum,
       nicht nur mit vier Jahren Trump, sondern im Grunde genommen mit der
       bisherigen Geschichte des Landes aufzuräumen.
       
       ## Läuterung anstelle von Versöhnung
       
       Wie aber soll die Versöhnung gelingen, wenn man die Gegenseite als
       Verteidiger eines systemischen Rassismus begreift oder gar als einen Haufen
       reaktionärer Protofaschisten? Will man die eigene Agenda entschärfen, bloß
       um niemanden von der „anderen Seite“ zu verängstigen? Wohl kaum. Dabei geht
       es nicht allein um Inhalte. Ein großer Teil der Partei ist der Meinung,
       dass es an der Zeit sei, in der politischen Auseinandersetzung die
       Samthandschuhe endlich auszuziehen.
       
       2016 war [7][Michelle Obamas Parole: „When they go low, we go high“] („Je
       tiefer sie sinken, desto anständiger verhalten wir uns“), noch sehr
       populär. Das aber fühlt sich nach vier Jahren, in denen ein Autokrat die
       Axt an die amerikanische Demokratie angelegt hat, merkwürdig entrückt an.
       
       Und so werden innerhalb der amerikanischen Linken schon lange Strategien
       diskutiert, die natürlich nicht auf Versöhnung, sondern auf zukünftige
       Mehrheitsfähigkeit zielen: die Aufstockung der Anzahl der Richter am
       Supreme Court, die Ausrufung von Washington, D.C. und Puerto Rico als
       Bundesstaaten, um sowohl im Kongress als auch im Electoral College neue
       Mehrheitsverhältnisse zu schaffen, und einiges andere mehr.
       
       Das Buch von [8][David Faris, „It’s time to fight dirty“], zu Deutsch: „Ab
       jetzt wird mit unsauberen Mitteln gekämpft“, Untertitel: „Wie Demokraten
       eine dauerhafte Mehrheit in der amerikanischen Politik erreichen können“,
       erfreut sich unter linken Demokraten derzeit großer Beliebtheit. Einige
       Politologen warnen vor dem, was man als tit-for-tat polarization („Wie du
       mir, so ich dir“) bezeichnet: eine sich stetig selbst verstärkende
       Polarisierung, in der der Norm- und Regelbruch der einen Seite wiederum
       die Eskalationsbereitschaft der Gegenseite erhöht.
       
       Aber auch wenn man annimmt, dass solche Theorien an der Realität längst
       vorbeigehen, weil die Republikaner bereits alle Grenzen überschritten
       haben, und es jetzt gilt, Feuer mit Feuer zu bekämpfen: ein Beitrag zur
       Überwindung der Gräben ist es gewiss nicht. Nehmen wir einen letzten Punkt,
       der vielleicht am prägnantesten zeigt, dass sich hier unvereinbare Logiken
       gegenüberstehen. Einer der vielen Gründe für die Polarisierung der USA ist
       die Totalpolitisierung aller Lebensbereiche.
       
       Vom Medienkonsum, über das Freizeitverhalten bis hin zum Datingmarkt haben
       sich politische Identitäten bis in alle Lebensbereiche hineingefressen.
       Insofern wäre es vermutlich für das Land gesund, wenn man sich zumindest
       bemühte, wieder mehr Inseln des unpolitischen Zusammenseins zuzulassen,
       Orte, an denen die ideologische Dauererregung abklingen kann und die Bürger
       nicht ständig an ihre Unterschiede erinnert werden.
       
       ## Inseln unpolitischer Begegnungen
       
       Folgte man aber diesem Gedanken, dann müsste man auch dafür plädieren, den
       US-Sport zu entpolitisieren, ihn nicht länger zum Vehikel des Kampfs gegen
       Rassismus zu machen, was dazu geführt hat, dass viele Republikaner die NBA
       kaum noch und die NFL, die Profiliga im American Football, immer seltener
       anschalten.
       
       Der geneigte taz-Leser hat es längst gemerkt: Man würde bei Positionen
       landen, die das Gegenteil dessen wären, was die Linke anstrebt, die
       natürlich davon ausgeht (wie alle Linken zu allen Zeiten), dass sowieso
       alles politisch ist, gerade das vordergründig Unpolitische, das daher umso
       dringender der Aufdeckung und Entlarvung bedarf. Anders ausgedrückt:
       
       Die amerikanische Linke will nicht die Versöhnung; sie will die Läuterung,
       und zwar die der Gegenseite, und falls das nicht funktioniert, dann hofft
       sie darauf, dass die demografische Entwicklung im Land das Problem
       schließlich von allein löst. Auch ein ambitioniertes Projekt, aber eben ein
       anderes. Und vielleicht stimmt es ja: Vielleicht ist die Sehnsucht nach
       Versöhnung und Depolarisierung tatsächlich ein blasierter Zentristentraum.
       
       Vielleicht ist es das typische Denken von Menschen, die lieber keine großen
       Veränderung anstreben und sich vor allem nach Stabilität sehnen, weil sie
       mit dem Status quo nicht wirklich schwer hadern. Und gegen diese Haltung
       ließe sich dann gewiss argumentieren, dass echte Veränderungen fast immer
       gegen erbitterten Widerstand erkämpft wurden – Polarisierung insofern eben
       der Preis ist, den wir von Zeit zu Zeit für den Fortschritt entrichten
       müssen.
       
       Ein gutes Beispiel dafür ist übrigens ausgerechnet der Urkonflikt der
       amerikanischen Politik der 60er Jahre, der, wie bei einem Dominoeffekt, die
       bis heute anhaltende Dynamik in Bewegung setzte. Denn bis in die frühen
       60er galt die US-Politik als ausgesprochen konsensgeprägt. Beide Parteien
       hatten damals liberale wie konservative Flügel, die ideologischen
       Überschneidungen waren groß, weshalb auchdie Kompromissfähigkeit immens
       war.
       
       ## Keine Veränderung ohne Widerstände
       
       Das blieb so, bis sich die Demokraten endlich dazu durchrangen, energisch
       die Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings zu unterstützen, und dann
       schließlich mit dem [9][Civil Rights Act 1964] die faktische Rassentrennung
       im Süden der USA beendeten. Die Folge: Die konservativen Wähler im Süden,
       bis dahin eine feste Bank für die Partei, wechselten kollektiv die Seite
       und begannen, republikanisch zu wählen.
       
       Das beendete die extreme Heterogenität, die bis dahin Demokraten und
       Republikaner ausgezeichnet hatte und legte den Grundstein zu der heutigen
       Dualität. Anders ausgedrückt: Der Civil Rights Act, der die Diskriminierung
       per Gesetz beendete, polarisierte das Land, und das war so richtig wie
       notwendig. Vielleicht sollte man keine Versöhnung erwarten, keine Heilung
       oder was immer an transzendenten Begriffen derzeit die Erwartungen steuert.
       
       Vielleicht sollte man zufrieden sein, wenn die Sache nicht noch weiter
       eskaliert. Dafür muss man sich nicht einmal versöhnen. Es heißt
       schließlich, Frieden schließe man mit seinen Feinden.
       
       14 Nov 2020
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Siegesrede-von-Joe-Biden-nach-US-Wahl/!5726831&s=biden/
   DIR [2] /Trumps-Anhaenger-bei-den-US-Wahlen/!5723608&s=trump+w%C3%A4hler/
   DIR [3] /Barak-Obama---der-neue-Kennedy/!5187786/
   DIR [4] /Donald-Trumps-Erlass-zu-Obamacare/!5454974/
   DIR [5] /Glaude-ueber-Rassismus-in-den-USA/!5717205/
   DIR [6] /Bernie-Sanders-schmeisst-Kandidatur-hin/!5677749/
   DIR [7] https://www.youtube.com/watch?v=mu_hCThhzWU
   DIR [8] https://www.nytimes.com/2018/05/17/books/review/its-time-to-fight-dirty-david-faris.html
   DIR [9] /50-Jahre-Civil-Rights-Act/!5039750/
       
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