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       # taz.de -- Wiederauflage von britischem Essayband: Aquarium oder Fischsuppe
       
       > Der Essayband des britischen Historikers Timothy Ash über die Wende in
       > Mittel- und Osteuropa war 1990 ein Erfolg. Er wurde noch einmal
       > aufgelegt.
       
   IMG Bild: Timothy Garton Ash, britischer Publizist, bei der Verleihung des 52. Theodor Heuss Preises 2019
       
       Es war der US-amerikanische Schriftsteller und Nobelpreisträger William
       Faulkner, dem wir eine der treffendsten Bemerkungen zur Geschichtlichkeit
       der Menschen verdanken: „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist noch
       nicht einmal vergangen.“
       
       In diesem Geist hat der britische [1][Publizist und Historiker Timothy
       Garton Ash], Jahrgang 1955, ein erstmals 1990 auf Deutsch erschienenes Buch
       bald 30 Jahre später mit einem neuen Schlusswort vorgelegt. So ist das nun
       neu vorgelegte Buch ein Erinnerungsbuch, an dessen Entstehen sich der Autor
       im neuen Nachwort erneut erinnert.
       
       Schon bei der Erstpublikation war dies Buch ein Werk der Erinnerung: an
       jene letzten Jahre des „Ostblocks“ – von der Sowjetunion bis an die Elbe –,
       in denen sich, vornehmlich von Intellektuellen getragen, eine liberale
       Revolution abzuzeichnen schien. Tatsächlich kommt der Autor zu dem Schluss,
       dass jene Jahre – wie 1848 – eine Revolution der Intellektuellen gewesen
       seien.
       
       ## Leichter Zugang zu Institutionen der DDR
       
       Ash, in den 1980er Jahren vor allem journalistisch tätig, bereiste seit
       Mitte der 1980er Jahre die DDR, die ČSSR, vor allem aber Polen und Ungarn,
       um dort Kontakt zu Hochschullehrern, Publizisten und Dissidenten
       aufzunehmen und ein Gespür für die in diesen Ländern herrschende Unfreiheit
       zu gewinnen. Als Brite hatte Ash leichten Zugang zu Institutionen der DDR
       und konnte dort – so der Rückblick auf das Jahr 1984 – „Bibliotheken eines
       entschwundenen Staates“ besuchen.
       
       Im damaligen Ostberlin fiel ihm auf den Karteikarten einer Bibliothek,
       neben der Signatur der Titel, ein Kürzel auf: ASF. Auf Nachfrage wurde ihm
       mitgeteilt, dass dies „Abteilung für spezielle Forschungsliteratur“
       bedeute, es also um Bücher ging, die nur besonders vertrauenswürdigen
       Personen in einem besonderen, diskreten, kleinen Leseraum ausgehändigt
       wurden.
       
       „In Glasvitrinen“, so erinnert sich Ash, „stehen der komplette Völkische
       Beobachter neben gebundenen Ausgaben von Spiegel und Stern, Bahros
       ‚Alternative‘ einträchtig neben Hitlers ‚Mein Kampf‘ und John Tolands
       Hitlerbiographie neben Stefan Heyms Novelle über den Stalinismus in der
       DDR.“
       
       ## Die besondere Rolle der Intellektuellen
       
       Es sind drei Leitmotive, die Ashs Buch – genau genommen eine Sammlung
       zunächst publizierter feuilletonistischer Reportagen – durchziehen: die
       Frage nach der besonderen Rolle der Intellektuellen seit dem Prager
       Frühling und Johannes Pauls II. Besuch in Polen; die Frage, ob
       Gesellschaften, die einmal durch den diktatorischen sowjetischen
       Staatssozialismus geprägt wurden, wieder zu einer liberalen Struktur finden
       können; sowie schließlich – im neuen Schlusskapitel –, wie es kommt, dass
       sich nicht wenige dieser Gesellschaften, jener Polens, der Tschechoslowakei
       und Ungarns, in Teilen auch der Bevölkerung der ehemaligen DDR,
       rechtspopulistischen Herrschafts- und Regierungsformen zuwenden.
       
       Für das erste Problem hat Ash eine möglicherweise zu starke Metapher
       gefunden: dass es zwar einfach sei, aus einem Aquarium eine Fischsuppe zu
       machen, aber nur schwer möglich, den umgekehrten Weg zu gehen, eine
       Fischsuppe wieder in ein Aquarium zu verwandeln.
       
       Zu prüfen ist demnach, inwieweit der diktatorische Staatssozialismus die
       gesellschaftlichen Grundlagen von vor 1945 ja keineswegs liberalen
       Demokratien unwiederbringlich verändert hat – was auch ihre gegenwärtige
       Neigung zu illiberalen Demokratien erklären könnte.
       
       Wenn überhaupt, dann argumentiert er sozialpsychologisch: dass nämlich die
       Konfliktlinie zwischen Menschen und unterdrückerischem Staat durch jeden
       einzelnen Menschen hindurchgehe. Umso mehr hebt er dafür die Rolle von
       mutigen Intellektuellen, etwa von Kosik in der ČSSR und Michnik in Polen,
       hervor – beinahe bis zu der Annahme, dass der Umbruch in Ostmitteleuropa
       sehr wesentlich ein Werk von Intellektuellen, also von Akademikern gewesen
       sei, ohne dabei die entscheidende Rolle Gorbatschows zu übergehen.
       
       Was die ČSSR angeht, kann Ash immerhin festhalten, dass dieses Land in der
       Zwischenkriegszeit eine der wenigen liberalen Demokratien überhaupt in
       Europa gewesen ist. In diesem Kontext erläutert er präzise die Karriere des
       neu prominent gewordenen Begriffs Mitteleuropa – wenngleich, wie Ash 1986
       konstatieren musste, man beim Gebrauch des Begriffs Mitteleuropa von
       „zänkischen Gespenstern“ umgeben ist.
       
       ## Einfühlungsvermögen in kollektive Bewusstseinslagen
       
       Eine ähnliche Rolle wie die neuen mitteleuropäischen Gesellschaften spielt
       aber auch die westdeutsche Bundesrepublik mitsamt ihrer vielfältigen, nach
       Ashs Auffassung demokratieförderlichen Erinnerungskultur: Sein
       tiefgründiger Vergleich zweier Filme der 1980er Jahre, von Claude Lanzmanns
       „Shoah“ und Edgar Reitz’ Trilogie „Heimat“, beweist des Autors
       wissenschaftliches Einfühlungsvermögen in kollektive Bewusstseinslagen.
       
       Ash identifiziert schließlich vier Faktoren, die zur Emanzipation der
       ostmitteleuropäischen Gesellschaften geführt haben: erstens die
       Wiederentdeckung der nationalen Vergangenheiten, zweitens die
       Wiederentdeckung der Religion, drittens die Wiederherstellung von
       „Zivilgesellschaft“ sowie viertens das freie Unternehmertum.
       
       Ob mit diesen in sich teils widersprüchlichen Tendenzen das zu erklären
       ist, was heute als beunruhigender „Rechtspopulismus“ jener Länder gilt, was
       sie also nur als „Fischsuppe“ – freilich neuen Typs – weiterexistieren
       lässt, ist endlich Thema des neuen Schlusskapitels, das vor dem Hintergrund
       der Gegenwart besonders anregend wirkt.
       
       17 Dec 2019
       
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