URI: 
       # taz.de -- Wiederkehr des Klassismus: In Moral verbarrikadiert
       
       > Die Klassenfrage wird seit neuestem wieder vermehrt gestellt – allerdings
       > identitätspolitisch und mit moralischem Unterton.
       
   IMG Bild: Reinigungskräfte auf dem Parteitag der Grünen in der Dortmunder Westfalenhalle im Januar 2009
       
       Am Identitätshimmel ist ein neuer Stern aufgegangen. In den USA altbekannt,
       wurde er hier erst kürzlich (wieder-)entdeckt. Er trägt den Namen
       „Klassismus“. Ein bedeutungsschwangerer Begriff – denn die Bedeutung, die
       er in seinem Bauch trägt, wiegt schwer: Es ist die Klasse. Auferstanden aus
       den Ruinen der Linken, ist sie zum „Klassismus“ mutiert. Klassismus meint
       Vorurteile und Diskriminierungen aufgrund der sozialen Herkunft. Das sind
       abschätzige Blicke, herablassende Gesten, das Herabschauen – Klassismus
       richtet sich vorwiegend gegen Schlechtergestellte. Er reicht von mangelnder
       Anerkennung bis hin zur offenen Verachtung.
       
       Solches zu benennen heißt, es zu kritisieren. Das schafft ein Bewusstsein,
       dass [1][Klassen mehr sind – immer mehr waren als rein ökonomische
       Kategorie]n. Ein gegensätzliches Verhältnis, wo Ausbeutung flankiert ist
       von Geringschätzung. Mal expliziter – mal diskreter als die „feinen
       Unterschiede“, wie sie der [2][Soziologe Pierre Bourdieu] sichtbar gemacht
       hat. In jedem Fall aber dient solcher Klassismus sowohl als Legitimation
       der Unterdrückung – als auch als Besiegelung des Klassenschicksals. So
       wehrt eine Gesellschaft allzu heftigen sozialen Aufstieg ab.
       
       Klassismus findet sich, in der Definition des US-Ökonomen Chuck Barone, auf
       drei Ebenen: als Unterdrückung durch das ökonomische System; als Vorurteil
       gegen Gruppen und als individuelle Vorbehalte. Bezeichnend, dass der
       nunmehr wiederentdeckte Klassismus sich allerdings auf die zweite und
       dritte Ebene konzentriert.
       
       ## Diskriminierung und Anklage
       
       Denn solcherart wird die soziale Frage in eine Frage der Diskriminierung
       verwandelt. Sie wird in einen Moraldiskurs eingeschrieben, der folgerichtig
       mit den entsprechenden Methoden exorziert werden soll:
       Anti-Klassismus-Trainings, um klassistische Einstellungen zu überwinden.
       
       Das bedeutet nichts weniger als die Wiederkehr der Klassenfrage als
       Identitätspolitik. Die Klasse wird zur Identität und der Klassismus zur
       identitätspolitischen Ausgrenzung. Das ist kein Wunder – denn Identität
       bildet heute unseren ideologischen Horizont. Identität ist die Form, in der
       gesellschaftliche Konflikte heute ausgetragen werden – wie man in
       Abwandlung von Karl Marx sagen könnte. Identitätspolitik aber ist immer
       Anerkennungspolitik. Bei race und gender ist klar, auf welche Anerkennung
       das abzielt. Aber bei der Klassenzugehörigkeit? Was ist das Ziel, die
       Utopie des Klassismus-Diskurses: eine glückliche Unterschicht, glücklich,
       weil man sie nicht mehr so nennen darf?
       
       Das ist natürlich billige Polemik, wird man einwenden. Denn es ginge nicht
       um entweder – oder. Nicht: entweder ökonomische Verteilungskämpfe oder
       respektvoller Umgang. Nicht: entweder Geld oder Anerkennung. Nicht:
       ökonomisches oder symbolisches Kapital. Es ginge vielmehr um das Und. Um
       beides. Wie zuletzt etwa Olaf Scholz bekräftigt hat.
       
       ## Identitätspolitische Festschreibung
       
       Aber hier übersieht man einen entscheidenden Punkt: Die
       identitätspolitische Festschreibung verhindert genau das. Sie verhindert
       das Und, das Beides – weil sie sich in ihrer Ausschließlichkeit, in ihrer
       Moral verbarrikadiert. Einbunkert. So wie sie den Klassismus auf dieser
       Ebene festnagelt. Weil sie keine allgemeinen, umfassenden Konzepte mehr
       zulässt. Nur noch individuelle. Mit dem Effekt, dass die notwendige
       Anerkennung ebenso wie die notwendige Solidarität umcodiert wird.
       
       Solidarität basiert auf Gemeinsamkeit, auf etwas, das man teilt. Früher war
       das die Klassenlage. Heute aber werden Anerkennung und Solidarität nur noch
       imaginär gefasst. Im Sinne eines Spiegelbilds. Verbindend sind nicht die
       Verhältnisse. Verbindend ist vielmehr die Ähnlichkeit. Wie bei race und
       gender. Nun wird auch Klasse zu einer solchen Identität. Um es klar zu
       sagen: Ja, es braucht soziale und symbolische Anerkennungskämpfe. Niemand
       will eine Rückkehr zum kruden Ökonomismus. Aber Richtung und Dynamik, die
       die Identitätspolitik genommen hat, sperren sie in ein Spiegelkabinett. Und
       das ist heute ihre Crux. Genau das macht all die notwendigen Kämpfe um
       Anerkennung zur Sackgasse.
       
       23 Mar 2021
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Mammutprojekt-ueber-Karl-Marx/!5522398
   DIR [2] /Pierre-Bourdieus-90-Geburtstag/!5697549
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Isolde Charim
       
       ## TAGS
       
   DIR Knapp überm Boulevard
   DIR Klassismus
   DIR Klassenkampf
   DIR Identitätspolitik
   DIR Karl Marx
   DIR Pierre Bourdieu
   DIR Knapp überm Boulevard
   DIR Knapp überm Boulevard
   DIR Identitätspolitik
   DIR Knapp überm Boulevard
   DIR Klassismus
   DIR Klassismus
   DIR Knapp überm Boulevard
   DIR Entschuldigung
   DIR soziale Klassen
   DIR Lesestück Recherche und Reportage
       
       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
   DIR Buckhead grenzt sich ab: Abschied vom Gemeinwohl
       
       Buckhead, ein Viertel des US-amerikanischen Atlanta, will eine eigene Stadt
       werden. Unsere Autorin sieht darin eine „Sezession der Reichen“.
       
   DIR Moralischer Kapitalismus: Der Sog der Finanzwelt
       
       Enthemmt beim Erwerb – gehemmt im Genuss: Der Wirecard-Skandal zeigt einen
       ökonomischen und gesellschaftlichen Widerspruch im System.
       
   DIR Identitätspolitik und Wissenschaft: „Jede Generation hat ihre Agenda“
       
       Der Soziologe Steffen Mau wirft im Gespräch einen differenzierten Blick auf
       die Debatte um Identitätspolitik.
       
   DIR Abbau von Autoritäten: Vom Aufstieg des Starprinzips
       
       Die Autorität fällt, wenn ihr obszönes Gesicht publik wird. Das Starprinzip
       aber ist resistent gegen Entzauberungen, wie Sebastian Kurz zeigt.
       
   DIR Klassismus und Bildung: Mehr als nur Anerkennung
       
       Klassismus auf Bildungsdiskriminierung zu reduzieren, ist realitätsfremd.
       Die Debatte um Klassismus wird verengt und mit falschem Fokus geführt.
       
   DIR Rückkehr des Klassenbegriffs: Klasse ohne Kampf
       
       Wer heute Klasse sagt, meint meist Klassismus. Von links gibt's Kritik:
       Wenn die Zugehörigkeit zur Klasse nur angenehmer wird, schafft niemand sie
       ab.
       
   DIR Angst und Wut in der Pandemie: Affekte beherrschen unsere Zeit
       
       Es sind nicht Überzeugungen, sondern Emotionen, die uns aktuell spalten.
       Für eine Gesellschaft ist die Vorherrschaft der Affekte höchst
       problematisch.
       
   DIR Entschuldigungen im Hollywood-Film: Noch nie was Dümmeres gehört!
       
       Aus aktuellem Anlass werfen wir einen Blick auf das wandlungsfähige Thema
       Entschuldigungen im Hollywood-Film. Wichtig ist es dort allemal.
       
   DIR Rückkehr der „Zweiklassengesellschaft“: Marxsche Magie
       
       Zu den aktuell beliebten Ein-Wort-Kommentaren zu Privilegien für Geimpfte
       gehört „Zweiklassengesellschaft“. Doch der Begriff passt nicht.
       
   DIR 200. Geburtstag von Friedrich Engels: Der Erfinder des Marxismus
       
       Am 28. November ist der 200. Geburtstag von Friedrich Engels. Er stand
       zeitlebens im Schatten seines Freundes Karl Marx. Zu Unrecht. Eine
       Würdigung.
       
   DIR Pierre-Joseph Proudhon zum 200.: Der anarchistische Kleinbürger
       
       Seinen Ausspruch "Eigentum ist Diebstahl" kennt fast jeder. Ansonsten ist
       Pierre-Joseph Proudhon, der radikale anarchistische Denker des 19.
       Jahrhunderts, fast in Vergessenheit geraten.