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       # taz.de -- Wildtiere und Wälder in Deutschland: Schluss mit Bambi
       
       > Wer einen klimastabilen Mischwald fordert, muss auch den Bestand an
       > Schalenwild verringern. Höchste Zeit für mehr Rotwild auf dem
       > Sommergrill.
       
   IMG Bild: Wo bleibt das Waldpaket? Rotwild im Bayrischen Wald
       
       Als im Herbst 2019 Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner auf dem
       Waldgipfel satte 800 Millionen Euro für die Aufforstung ankündigte, war das
       öffentliche Echo groß. Ja, so stellte man sich ein Waldpaket vor! In der
       Freude ging ein anderer Satz der Ministerin fast unter: Sie wolle, dass es
       künftig eine zielgerichtete und stringentere Jagd gebe, sagte Klöckner.
       Ziel: [1][Der schöne 800-Millionen-Euro-Wald] soll nicht ruck, zuck von
       Rehen und Rotwild aufgefressen werden. Wie gut, dass laut Koalitionsvertrag
       ohnehin das Bundesjagdgesetz novelliert werden sollte.
       
       Nach wochenlangen Debatten zwischen den Ministerien kursiert nun ein
       Entwurf dieser Novelle. Doch das genannte Ziel ist nach diesem Entwurf
       sauber verfehlt worden. Das ist keine Petitesse: Wer einen klimastabilen
       Mischwald will, muss den Bestand an Schalenwild – vor allem Reh- und
       Rotwild – in vielen Regionen Deutschlands drastisch verringern. Und das
       heißt nicht nur, aber vor allem: sehr viel mehr Jagd.
       
       Doch die sieht [2][der ausgesprochen brave Entwurf] nicht vor. Er enthält
       nur eine größere Änderung: Statt eines generellen Abschussplans soll es
       eine Mindestabschussquote geben. Jäger und Waldbesitzer sollen gemeinsam
       festlegen, wie viele Tiere in einer Saison in der Region geschossen werden
       sollen. Zanken sich die beiden Parteien, soll ein Verbissgutachten helfen –
       ein Gutachten, wie viele junge Bäume in der Region zu welchem Grad
       abgefressen sind. Klappt es auch mit dem Gutachten nicht, darf die untere
       Jagdbehörde die Mindestabschussquote festlegen und notfalls auf Kosten des
       Verweigerers jagen lassen.
       
       Diese Mindestabschussquote reicht nicht nur nicht, sie funktioniert auch
       nicht. Denn die Aufforderung, gefälligst so viel zu schießen, dass
       Aufforstungen nicht aufgefressen werden, die „Wildschadensverhütung“, ist
       längst und in mehreren Paragrafen Bestandteil des Jagdgesetzes, inklusive
       Strafe. Gewirkt hat es nicht: Zwar schießen die rund 340.000 Jäger*innen
       jedes Jahr über eine Million Rehe, aber der Verbiss geht weiter.
       
       ## Abschussquoten teilweise abgeschafft
       
       Bundesweit gibt es Verbissgutachten, die zeigen, wie sehr die [3][Tiere die
       beliebten Eichen, Buchen und andere Laubbäume hochgradig verbissen] haben.
       Zehn Jahre alte Eichen, einer der beliebtesten und wichtigsten Bäume bei
       der Aufforstung, bleiben dadurch hüfthohe Krüppelbäume.
       
       Viele Klein- und Kleinstwaldbesitzer*innen, organisiert in
       Jagdgenossenschaften, wissen zudem gar nicht, wie hoch der Mindestabschuss
       sein müsste, damit ihr Wald zaunfrei nachwächst. Sie verlassen sich auf die
       Angaben der Jäger, die aber lieber mehr als weniger Wild haben wollen. Und
       ohne Pflicht eines körperlichen Nachweises – ein Ohr oder einen Unterkiefer
       – in der Mindestabschussquote dürfte es zu vielen so genannten
       Postkartenrehen kommen: Der Abschuss steht zwar auf dem Papier, aber das
       Tier lebt. Und frisst.
       
       In einigen Bundesländern sind die bisherigen Abschussquoten mit Blick auf
       den hohen Verbiss schon abgeschafft, wie in Brandenburg. Mehr geschossen
       wird trotzdem nicht. Nur eine kleine, aber immerhin wachsende und
       leidenschaftliche Gruppe an Jäger*innen fühlt sich bislang verpflichtet,
       den Grundsatz klimastabiler Wald mit Wild ernsthaft zu verfolgen.
       
       ## Enormer Shitstorm
       
       Mit einseitigen Schuldzuweisungen gehe es eben nicht, protestiert
       entsprechend der Deutsche Jagdverband. Das ist richtig. Aber jeder Wald, in
       dem mehr und konsequent gejagt wird, zeigt, dass der Kern der Lösung mehr
       Jagd ist. Zuletzt durfte sich das Klöckners Kollegin, Umweltministerin
       Svenja Schulze, in der Rochauer Heide in Brandenburg ansehen. Dort wächst
       der Wald nach. Warum? Weil die Förster dort mehr schießen.
       
       Es ist Zeit zu handeln: Schon 1971 scheuchte Horst Stern ausgerechnet am
       Weihnachtsabend die Bevölkerung zur Jagd, mit einem blutigen Film darüber,
       wie Schalenwild den Wald zerfrisst und zerfetzt – und Jäger aber lieber
       seelenruhig auf den begehrten kapitalen Bock warten. Stern erlebte einen
       enormen Shitstorm, weil er Bambi zum Abschuss freigegeben hatte. Bambis
       Kulleraugen nutzt die konservative Jägerschaft bis heute effizient, um die
       Schießverweigerung zu verstecken: Denn mehr Jagd hieße mittelfristig,
       weniger Wild zu sehen, wenn man die teuer bezahlte Pacht nutzt und zum
       Ansitz fährt.
       
       Richtig ist aber auch: Mit mehr Jagd alleine ist das Problem nicht gelöst.
       Der reduzierte, verbliebene Bestand an Tieren – kein Waldbesitzer will Rehe
       ausrotten, wie es Jäger*innen gerne behaupten – braucht Ruhezonen,
       Äsungsflächen, Futter wie Kräuter und Sträucher als Ersatz für junge Bäume.
       An diesen Lösungen zu arbeiten ist nicht nur Aufgabe der Jäger*innen,
       sondern auch die der Waldbesitzer*innen und der Landesregierungen mit ihren
       Wald- und Jagdgesetzen.
       
       ## Forstämter fit machen
       
       Dafür bedarf das Bundesjagdgesetz einer grundlegenden Novellierung, nicht
       einer Schönheitskorrektur – wie es auch der wissenschaftliche Beirat
       Waldpolitik der Bundesregierung fordert. Definitionen zu Hege und Wild
       müssen modernisiert werden. Die jahrelang zusammengesparten Forstämter
       müssen besser ausgestattet werden, um mit den (tief zerstrittenen) Parteien
       Lösungen zu erarbeiten. Die Pachtzeit von derzeit mindestens neun Jahren
       sollte flexibler werden, damit man schießfaule Hobbyjäger*innen schneller
       loswird. Die unsinnige Fütterung von Schalenwild im Winter sollte verboten
       werden – es sind Wildtiere. Das Ziel heißt: Wald mit Wild – statt Wild vor
       Wald.
       
       Armes Bambi! Wer nun aufheult, sollte mehreres bedenken: Der Preis, alles
       zu lassen, wie es ist, ist der so sehnlich gewünschte klimastabile Wald –
       oder mit teuren Zäunen zugerammelte Wälder, die Tier und Mensch vertreiben.
       Und wenn überhaupt Fleisch gegessen wird, [4][dann ist ein Reh-, Dam- und
       Rotwildbraten mit Abstand das Beste, was auf den Tisch kann]. Bislang aber
       schwimmt der Braten meist nur Weihnachten in der Soße. Höchste Zeit für
       mehr Reh- und Rotwild auf dem Sommergrill.
       
       30 Jun 2020
       
       ## LINKS
       
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   DIR [3] /Wildtiere-im-Rothaargebirge/!5684424
   DIR [4] https://www.vice.com/de/article/k7eejm/fleisch-co2-wildschwein-klima
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Maike Rademaker
       
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