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       # taz.de -- Wissenschaftler über Antisemitismus: „Keine Definition ist abschließend“
       
       > Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Peter Ullrich kritisiert die in
       > einer Bundestagsresolution verwendete Definition von Antisemitismus.
       
   IMG Bild: Antisemitismus im Duden
       
       taz: Herr Ullrich, wie einfach zu beantworten ist die Frage, was
       Antisemitismus ist? 
       
       Peter Ullrich: Ich habe mit vielen Kolleg:innen die letzten Jahre an
       einem Buch zur Frage „Was ist Antisemitismus?“ gearbeitet. Wir haben uns
       besonders mit wissenschaftlichen Verständnissen von Antisemitismus
       auseinandergesetzt und damit, wie hochgradig unterschiedlich diese
       ausfallen. Das Thema ist extrem komplex und Forschende kommen zu
       unterschiedlichen Zeiten aus unterschiedlichen fachlichen Perspektiven zu
       anderen Antworten auf diese Frage.
       
       taz: In Ihrer Veranstaltung soll es auch um die Bundestagsresolution „Nie
       wieder ist jetzt – Jüdisches Leben in Deutschland schützen, bewahren und
       stärken“ gehen. Was kritisieren Sie an der ihr zugrunde gelegten
       Antisemitismusdefinition?
       
       Ullrich: Ein Problem ist, dass hier und auch in anderen Beschlüssen die
       extrem weite, widersprüchliche und unscharfe [1][Definition der
       International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA)] als all selig machende
       Definition promotet wird. Dabei wird versucht, ein bestimmtes Verständnis
       von Antisemitismus administrativ festzulegen. Unter Nutzung der
       IHRA-Definition werden auch immer wieder nicht antisemitische kritische
       Positionen zu Israel, auch von linken Jüd:innen, dem Antisemitismus
       zugeordnet.
       
       taz: Sie selbst haben an der [2][Jerusalemer Erklärung] mitgearbeitet,
       einer anderen Antisemitismusdefinition. Warum finden Sie diese passender?
       
       Ullrich: Grundsätzlich kann keine Definition abschließend, für alle und für
       jeden Zweck, Antisemitismus bestimmen. Aber man kann es prägnanter und
       weniger widersprüchlich tun. Außerdem führt die Jerusalemer Erklärung eine
       wichtige Unterscheidung im Kontext des Israel-Palästina-Konflikts ein:
       Nämlich zwischen Dingen, die im Kontext des Konflikts als solche
       antisemitisch sind, und denen, die nicht per se antisemitisch sind, aber es
       sein können.
       
       taz: Auch die AfD hat für die Bundestagsresolution „Nie wieder ist jetzt“
       gestimmt. Versuchen Rechtsradikale, Antisemitismus für ihre Zwecke zu
       instrumentalisieren? 
       
       Ullrich: Das ist Reinwaschungstaktik. Die Rechte stellt sich an die Front
       des Kampfes gegen Antisemitismus, um den Antisemitismus in den eigenen
       Reihen zu kaschieren und linke Positionen anzugreifen. Und es gibt bei
       einigen Rechtsradikalen eine Nähe zu Israel wegen dessen ultrarechter
       Regierung. Da sind Anknüpfungspunkte in der rassistischen,
       migrationsfeindlichen und islamfeindlichen Ausrichtung. Damit treibt die
       AfD den Antisemitismusdiskurs erfolgreich nach rechts: Beispielsweise wird
       Antisemitismus in der Bundestagsresolution vor allem Migrant:innen
       zugeschrieben und Hebel zur Lösung des Antisemitismusproblems werden vor
       allem im Staatsbürgerschafts- und Aufenthaltsrecht ausgemacht. Obwohl wir
       aus allen Umfragen wissen, dass weiterhin der Rechtsextremismus der genuine
       Ort des Antisemitismus ist, der Ort wo antisemitische Einstellungen und
       Taten am meisten verbreitet sind.
       
       taz: Was würden Sie sich von Politik und Gesellschaft wünschen?
       
       Ullrich: Man sollte nicht versuchen, Antisemitismus gegen andere Formen von
       Menschenfeindlichkeit und Ausgrenzungsideologien auszuspielen, sondern
       [3][Antidiskriminierungsarbeit im grundlegenden Sinne stärken]. Man muss
       stärker anerkennen, dass wir es beim Nahostkonflikt mit einem politischen
       Konflikt zu tun haben, der in der deutschen Debatte häufig zu stark zu
       einem Antisemitismuskonflikt gemacht wird. Hier braucht es mehr Bildung und
       Auseinandersetzung mit den politischen und moralischen Widersprüchen. Die
       Sozialwissenschaftlerin Naika Foroutan hat mal gesagt: Das ist ein multipel
       verletzter Raum. Es gibt hier nicht nur Gut und Böse, sondern komplexe
       Konstellationen von Leiden und Erleiden, von Täterschaft und Opferschaft.
       
       30 Jan 2025
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /NS-Experte-zu-Antisemitismus-Resolution/!6062234
   DIR [2] https://www.jerusalemdeclaration.org/wp-content/uploads/JDA-German.pdf
   DIR [3] /Diskriminierung-bei-Finanzgeschaeften/!6064868
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Marie Dürr
       
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