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       # taz.de -- Zensus 2022: Nur 969 Menschen divers
       
       > Erstmals hat der Zensus Menschen gezählt, die als „divers“ gemeldet sind.
       > Die Zahlen liegen der taz vor. Warum sind sie so niedrig?
       
   IMG Bild: Laut dem Zensus 2022 ordnen sich bundesweit 2.228 Menschen nicht den Geschlechtern „Mann“ oder „Frau“ zu. Schätzungen sind bislang von höheren Zahlen ausgegangen
       
       Berlin taz | 2.228 – ungefähr so viele Einwohner haben Alveslohe in
       Schleswig-Holstein oder Felixsee in Brandenburg. Und so viele Menschen sind
       in Deutschland laut den neuen Zensusdaten weder Mann noch Frau. Laut den
       Zahlen, die das Statistische Bundesamt auf Sonderanfrage der taz
       ausgewertet hat, lebten zum Stichtag im Mai 2022 in Deutschland genau
       42.044.446 Frauen und 40.672.866 Männer. 1.259 Personen machten keine
       Angabe, 969 bezeichneten sich als divers. Prozentual sind also 0,001522
       Prozent der Bevölkerung ohne Angabe und 0,001171 Prozent divers, zusammen
       0,002693 Prozent.
       
       Das ist absurd wenig. Die Deutsche Gesellschaft für Trans*- und
       Inter*geschlechtlichkeit (dgti) schätzt, dass tatsächlich ca. 1,7
       Prozent der Bevölkerung intergeschlechtlich sind. Die Option „divers“ gibt
       es erst seit Dezember 2018. Intergeschlechtliche Menschen können seitdem
       per Personenstandsgesetz ihr Geschlecht und ihre Vornamen im
       Geburtenregister, das Teil des Personenstandsregisters ist, ändern lassen.
       Um als „divers“ gelten zu dürfen, ist ein ärztlicher Nachweis für „das
       Vorliegen einer Variante der Geschlechtsentwicklung“ erforderlich.
       
       Menschen, die zwar nicht inter, aber trans oder nicht-binär sind, können
       seit 2020 ebenfalls ihren Geschlechtseintrag ändern lassen, und zwar über
       das Transsexuellengesetz. Den Bevölkerungsanteil der nicht-binären Pesonen
       schätzt die dgti auf 0,2 Prozent. Belastbare Daten darüber, wie viele
       Menschen sich selbst – unabhängig vom Geburtenregister – als nicht-binär
       identifizieren, gibt es nicht. Eine 2021 erschienene internationale
       [1][Studie des Marktforschungsunternehmens Ipsos] befragte rund 19.000
       Menschen zu ihrer Geschlechtsidentität. Dabei gaben immerhin 1 Prozent der
       Befragten an, sich als nicht-binär, non-conforming oder genderfluid zu
       identifizieren.
       
       Auch wenn 2.228 nach wenig klingt, zeigen die Zensuszahlen eine deutliche
       Steigerung an, zumindest verglichen mit den Daten, die dem Innenministerium
       im September 2020 vorlagen: In einer [2][Antwort auf eine kleine Anfrage]
       der AfD steht, dass im Jahr 2019 256 Menschen eine Änderung des
       Geschlechtseintrages zu „divers“ oder „ohne Angabe“ geändert hätten. Im
       Jahr 2020 waren es bis September 138, also insgesamt zu dem Zeitpunkt nur
       fast 400.
       
       ## Die Diskriminierung hört damit nicht auf
       
       „Die Zensuszahl ist sogar höher, als wir erwarten würden. Denn die Hürden,
       um diese Geschlechtseinträge offen zu lassen oder divers in Anspruch zu
       nehmen, waren zur Zeit des Zensus und auch heute noch richtig hoch“, sagt
       Leo Yannick Wild von der Schwulenberatung Berlin. Das gelte sowohl für
       intergeschlechtliche als auch für nicht-binäre Personen.
       „Intergeschlechtliche Personen müssen zum Teil körperliche Untersuchungen
       als Nachweis über sich ergehen lassen“. Nicht-binäre Personen müssten über
       das Transsexuellengesetz gehen und ein amtsgerichtliches Verfahren sowie
       zwei psychiatrische Gutachten hinter sich bringen, um ihren
       Geschlechtseintrag ändern zu können.
       
       Außerdem höre die Diskriminierung damit nicht auf, so Wild von der
       Schwulenberatung. Als Beispiel nennt er, dass Auslandsreisen zum Risiko
       würden, „weil oft unsicher ist, ob andere Länder divers als
       Geschlechtseintrag akzeptieren“. Auch unangemessene Nachfragen gehörten zu
       den Folgen einer Angleichung des Geschlechtseintrags.
       
       Trotz aller Diskriminierung wächst der Bedarf nach Geschlechterkategorien
       außerhalb des binären Systems. „Der Anteil der nicht-binären Menschen, die
       unsere Inter*Trans*Beratung berät, steigt sehr stark. Mittlerweile liegt er
       schätzungsweise bei 30 Prozent aller Ratsuchenden“, sagt Wild. Von denen
       hätten bis jetzt aber nur maximal 2 bis 3 Prozent ihren Geschlechtseintrag
       in offen oder divers geändert.
       
       Wild geht davon aus, dass dieser Anteil deutlich steigen wird. Denn dank
       des Selbstbestimmungsgesetzes, [3][das im April beschlossen wurde], wird es
       bald sehr viel einfacher, den Geschlechtseintrag ändern zu lassen. Für
       Erwachsene wird dann eine persönliche Erklärung gegenüber dem Standesamt
       genügen, ohne dass es Meinungen Dritter bedarf. Das Gesetz soll im November
       in Kraft treten.
       
       Hinweis der Redaktion: Bis zum 12.7. hieß es in dem Artikel, die Daten
       lägen der taz exklusiv vor. Das Statistische Bundesamt hat darauf
       hingewiesen, dass sie allen Nutzer:innen einen gleichberechtigten Zugang
       zu statistischen Daten gewähren. Mittlerweile wurden die Daten für alle
       zugänglich gemacht, und zwar [4][hier].
       
       10 Jul 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.ipsos.com/en/lgbt-pride-2021-global-survey-points-generation-gap-around-gender-identity-and-sexual-attraction
   DIR [2] https://dserver.bundestag.de/btd/20/103/2010340.pdf
   DIR [3] /Bundestag-beschliesst-Gesetz/!6004179
   DIR [4] https://www.zensus2022.de/DE/Ergebnisse-des-Zensus/Sonderauswertungen.html?nn=1343142
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Alexandra Hilpert
       
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