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       # taz.de -- Zero Waste in Berlin: Zu viel für die Tonne
       
       > Aktuell werben die ersten Berliner „Zero-Waste-Aktionswochen“ für die
       > Vermeidung von Abfall. Ein Blick auf Berlins Müllberge zeigt: Das reicht
       > nicht.
       
   IMG Bild: „NochMall“ der BSR: Sieht gut aus – aber wer will das alles haben?
       
       Berlin taz | Der erste Eindruck beim Betreten der [1][„NochMall“] macht was
       her: Das „Gebrauchtwarenkaufhaus“, das die Berliner Stadtreinigung (BSR) in
       in einem früheren Baumarkt in der Nähe des Kurt-Schumacher-Platzes
       betreibt, wirkt kein bisschen ramschig, sondern luftig, hell und gut
       sortiert. Von Geschirr über Kleidung, von Büchern bis hin zu Betten und
       sogar Klavieren gibt es hier fast alles.
       
       Schlendert man durch die Gänge, kommen allerdings Zweifel auf. Wer
       investiert 120 Euro in ein gut abgesessenes Ledersofa, das noch nicht mal
       ironisch als cool rüberkommt? Wer mag all die billigen Ölgemälde von
       Kirchtürmen und Blumensträußen nach Hause tragen, wer hat Interesse an der
       zehnbändigen gebundenen Ausgabe von „Die Großen. Leben und Leistung der
       sechshundert bedeutendsten Persönlichkeiten unserer Welt“, Erscheinungsjahr
       1978?
       
       Am beliebtesten scheint noch die Bekleidungsabteilung zu sein, und auch für
       Teller und Tassen, die es schon ab 50 Cent gibt, stehen die Chancen besser.
       Wie gut die NochMall bei den BerlinerInnen ankommt, verrät die BSR aber nur
       bedingt: „Zu den Umsätzen möchten wir keine Auskunft geben“, heißt es dort.
       Besucht hätten das Kaufhaus im vergangenen Jahr allerdings 340.000
       Menschen, und mehr als 500.000 Artikel seien verkauft worden, Tendenz
       steigend.
       
       Können Angebote wie die NochMall, dieser „Erlebnisort für
       Kreislaufwirtschaft und Abfallvermeidung“ (BSR), die Müll-Lawine bremsen,
       die wir täglich erzeugen? Können eine Handvoll Unverpackt-Läden, ein paar
       Dutzend Reparatur-Cafés und Tauschbörsen für Gebrauchtes den Unterschied
       machen? Oder gehen diese oft sehr nischenhaften Initiativen im Dröhnen von
       Kaufen und Wegwerfen unter, das aus den Möbelhäusern, Elektronikdiscountern
       und Supermärkten dringt?
       
       Es ist Meike Al-Habashs Job, daran zu glauben. Sie ist die Chefin [2][der
       von der BSR eingerichteten „Zero-Waste-Agentur“], die seit einem Jahr daran
       arbeitet, „Abfallvermeidung und Ressourcenschonung zu fördern und
       Innovationen sowie Projekte und Angebote in diesem Bereich voranzubringen“.
       Unter der Leitung von Al-Habash [3][finden gerade die ersten Berliner
       „Zero-Waste-Aktionswochen“ statt]. Auf dem Programm, das rund 300 Termine
       umfasst, stehen Videokurse wie „Die Macht der Secondhandkleidung“ oder
       vorweihnachtliche Upcycling-Workshops, aber auch BSR-Kieztage, bei denen
       AnwohnerInnen in Wohnortnähe Gebrauchtes loswerden können – was keinen
       Abnehmer findet, wird als Sperrmüll entsorgt.
       
       ## „Null Müll“ oder „Null Verschwendung“?
       
       „Wir zeigen Möglichkeiten auf, um Ressourcen in den Kreisläufen zu halten“,
       sagt Al-Habash. Sie sei „optimistisch, dass durch Vernetzung und
       Kooperation mehr und weitere Zero-Waste-Angebote entstehen, die künftig von
       zunehmend mehr Bürger:innen verstärkt in Anspruch genommen werden“. Von
       „Null Verschwendung“ spricht Al-Habash. Es ist die Lesart des Senats von
       „Zero Waste“, einem Begriff, den viele Umwelt- und KlimaaktivistInnen eher
       mit „Null Müll“ übersetzen würden. Aber ein Blick in die Berliner
       Abfallstatistiken zeigt, dass Letzteres auf absehbare Zeit wenig mit der
       Realität zu tun hat.
       
       Ganz leicht sind diese Statistiken nicht zu lesen. Das liegt unter anderem
       daran, dass die Müllfraktionen nach den unterschiedlichen Orten erfasst
       werden, an denen sie anfallen – in den Tonnen von Wohngebäuden oder
       Gewerbebetrieben, aber auch auf den Recyclinghöfen der BSR oder bei den
       verschiedenen Entsorgern, die jeweils zuständig sind. Glas und Papier etwa
       tauchen nur zu einem kleinen Teil in den Bilanzen der BSR auf, weil diese
       bloß das zählt, was auf die Recyclinghöfe gebracht wird: Für die Leerung
       der Haustonnen ist die unabhängig agierende BSR-Tochter Berlin Recycling
       zuständig.
       
       Auch der Inhalt der Wertstofftonnen – Plastikverpackungen und kleinere
       Gegenstände aus Kunststoff oder Metall – wird nur zu einem kleinen Teil von
       der BSR abgefahren, in der Hauptsache aber von der privaten Alba GmbH.
       Gezählt werden diese Mengen dann in den Sortieranlagen, die von Unternehmen
       der sogenannten „Dualen Systeme“ betrieben werden. Der gewichtsmäßig mit
       Abstand größte Batzen des Berliner Abfalls – Schutt aus Abriss oder
       Sanierung von Gebäuden oder Straßen, der zu großen Teilen weiterhin auf
       Deponien landet – findet sich dabei noch nicht einmal in der offiziellen,
       zweijährlichen Abfallbilanz des Landes Berlin, denn die
       öffentlich-rechtlichen Entsorger sind dafür seit 2009 nicht mehr zuständig.
       
       [4][Die aktuell jüngste Abfallbilanz für 2021] weist für Hausmüll und
       Sperrmüll – alles, was von Haushalten und Kleingewerbe nicht vorsortiert
       entsorgt wird – ein Menge von 879.000 Tonnen aus, ein leichtes Plus zur
       Bilanz für 2019 (867.000 t). Wohin die Kurve mittlerweile zeigt, muss die
       ausstehende Bilanz für 2023 noch zeigen.
       
       Immerhin: Blickt man lediglich auf die grauen Tonnen für gemischten
       Restmüll, hat sich die darin gesammelte Menge laut den jährlichen Bilanzen
       der BSR von 2021 (809.000 t) zu 2022 (778.000 t) und 2023 (776.000 t)
       verringert. Bei den Wertstofftonnen gab es diesen Trend zuletzt allerdings
       nicht: Nach den Zahlen der Interzero GmbH, die zu den Dualen Systemen
       gehört und den Inhalt der Berliner Tonnen sortiert, hat sich das Aufkommen
       von 83.000 t im Jahr 2022 auf 84.000 t im Jahr 2023 sogar leicht erhöht.
       
       Wortwörtlich ins Gewicht fällt die Sammlung in der Biotonne, die 2019
       deutlich ausgeweitet wurde: 2013 landeten 63.000 t organischer Müll darin,
       seit 2020 sind es rund 120.000 t. Das heißt aber: Betrachtet man die
       Entwicklung des Hausmülls über diesen längeren Zeitraum hinweg, bleibt die
       Summe von Rest- und Biomüll praktisch unverändert, es wird jetzt lediglich
       mehr „Organik“ getrennt gesammelt.
       
       ## Zwei Drittel Organik gehen daneben
       
       Das ist gut, trotzdem ist die Erfassungsquote durch die Biotonne mit rund
       32 Prozent (2022) des Hausmülls weiterhin mager: „Im Umkehrschluss heißt
       das, dass 2022 zwei Drittel der Nativ-Organik, die in jedem Berliner
       Haushalt anfiel, über die Hausmülltonne entsorgt wurden“, so ein
       BSR-Sprecher. Das meiste von dem, was in Biogas und Kompost verwandelt
       werden könnte, wird also weiterhin unsortiert verbrannt.
       
       Insgesamt landen immer noch 64 Prozent (2021) aller Berliner
       Siedlungsabfälle in der „thermischen Verwertung“, also im Feuer,
       unmittelbar in der Müllverbrennung in Ruhleben oder mittelbar – nach
       Vorbehandlung und Abgabe etwa an die Zementindustrie. Beim Rest- und
       Sperrmüll waren es 2021 fast 90 Prozent, bei den
       Kunststoff-Leichtverpackungen immer noch 55 Prozent. Strahlende Sieger sind
       Glas und Papier, die praktisch vollständig recycelt werden.
       
       Vorläufiges Fazit: Die Müllberge, die die BerlinerInnen Tag für Tag und
       Jahr für Jahr produzieren, verändern sich bislang nur marginal. Da klingt
       es schon optimistisch, wenn die BSR auf Anfrage mit einer „leicht sinkenden
       Pro-Kopf-Menge“ des gemischten Haus- und Geschäftsmülls in der nahem
       Zukunft rechnet und auf das [5][Abfallwirtschaftskonzept des Landes]
       verweist. Das sieht bis 2030 eine Reduzierung vor von derzeit rund 206 kg
       pro EinwohnerIn und Jahr auf 182 kg.
       
       Wie und vor allem wann soll da eine drastische Verringerung dieser Menge
       auf 100 kg erreicht werden, wie sie der Landesverbands des Bunds für Umwelt
       und Naturschutz (BUND) fordert? Man müsse sich diesem Ziel eben „immer
       weiter annähern“, sagt Daniel Affelt, Koordinator für Abfall- und
       Ressourcenpolitik beim BUND-Landesverband – durch verbesserte Mülltrennung
       und Recycling, durch den Bau einer weiteren Biogasanlage, vor allem aber
       durch Vermeidung.
       
       Affelt verweist hier wie Zero-Waste-Chefin Al-Habash auf mehr Reparatur,
       gemeinschaftliche Nutzung von Gütern und Geräten und Gebrauchtkauf.
       Erreicht werden soll das durch ein stadtweites, „umfassendes
       Abfallberatungskonzept“ mithilfe „zivilgesellschaftlicher Akteure“, aber
       auch durch eine Steuer auf Einwegverpackungen.
       
       ## Pay as you throw
       
       Bei der Müllsammlung schwebt dem BUND auch der Einsatz von Technologie vor,
       um den weiterhin riesigen Anteil an Mischmüll zu reduzieren: „Ein gutes
       Beispiel sind Pay-as-you-throw-Systeme, bei denen diejenigen mehr zahlen,
       die mehr Restmüll verursachen“, sagt Affelt. Grundsätzlich von großer
       Bedeutung sei die bedarfsgerechte Ausstattung mit Müllbehältern und deren
       regelmäßige Leerung: „Wir hören immer wieder von Fällen, wo Tonnen
       wochenlang nicht abgeholt werden oder sich Hausverwaltungen aus
       vorgeblichen Platz- oder Kostengründen weigern, ihren Mieter*innen alle
       erforderlichen Recyclingtonnen zur Verfügung zu stellen. Das frustriert
       Menschen, die Müll trennen wollen.“
       
       Aber zurück zu den kleinen Gesten und Maßnahmen, wie sie auch von der
       Zero-Waste-Agentur promotet werden. Was bringt es, wenn ein paar Menschen
       wiederverwendbare Netze für den Gemüseeinkauf im Supermarkt nutzen, während
       sich daneben die Plastikverpackungen in den Einkaufswagen türmen? Eine
       berechtigte Frage, findet Meike Al-Habash. Solche Maßnahmen seien ein
       „erster Schritt in die richtige Richtung, aber sie allein genügen nicht, um
       das Gesamtbild zu ändern“.
       
       Es brauche neben umfassender Aufklärung auch Kooperationen mit dem
       Einzelhandel, um Einwegplastik zu reduzieren. Der Weg zu „Null
       Verschwendung“ könne wie eine Sisyphosaufgabe erscheinen, aber sei nicht
       aussichtslos. „Umgekehrt“, so Al-Habash, „muss die Gegenfrage erlaubt sein,
       ob stattdessen ein ‚Liegenlassen‘ der Zero-Waste-Angebote als sinnvolle
       Alternative scheint, wenn wir uns gleichzeitig mit Fragen von
       Ressourcenknappheiten, Klimawandel und resilienten Gesellschaften
       auseinandersetzen müssen.“
       
       Man könnte es auch so sagen: Es gibt keinen Grund, auf die ganz kleinen
       Schritte in Sachen Müllvermeidung zu verzichten – aber ohne ein großes
       Umsteuern durch die Politik wird ihre Wirkung verpuffen.
       
       Hinweis: Die ursprüngliche Version des Artikels legte nahe, dass auch
       Elektrokleingeräte in die Wertstofftonne gehören. Das ist nicht der Fall –
       diese müssen auf dem Recyclinghof oder per Rücknahme durch den Handel
       entsorgt werden.
       
       11 Nov 2024
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] https://www.nochmall.de/
   DIR [2] /Nachhaltigkeit-in-Berlin/!5945060
   DIR [3] https://www.zerowaste-aktionswochen.de/de
   DIR [4] https://www.berlin.de/sen/uvk/_assets/umwelt/kreislaufwirtschaft/abfallbehoerde/abfallbilanzen/abfallbilanz_2021.pdf?ts=1710413357
   DIR [5] https://www.berlin.de/sen/uvk/umwelt/kreislaufwirtschaft/strategien/abfallwirtschaftskonzepte/
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Claudius Prößer
       
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