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       # taz.de -- Zwangsprostitution vor Stader Gericht: Erst freiwillig, dann kam der Druck
       
       > Daniel R. soll eine junge Frau zur Prostitution gezwungen haben. Das
       > Stader Landgericht verurteilte ihn zu mehr als neun Jahren Gefängnis.
       
   IMG Bild: Fast unsichtbar: Sexarbeiterinnen sind in Wohnungen schwer zu schützen
       
       Stade taz | Sie wollte es ausprobieren. Mit 19 Jahren stieg Maya S.* in die
       Prostitution ein, freiwillig. Sie meldete ihre Arbeit an, wie das Gesetz es
       vorsieht – und wurde trotzdem ausgebeutet, kontrolliert, bedroht, weil sie
       an einen Mann geriet, der ihre Neugier ausnutzte.
       
       In Stade steht er derzeit vor dem Landgericht. Heute ist der letzte
       Verhandlungstag: Daniel R., 33 Jahre alt, angeklagt unter anderem wegen
       Zwangsprostitution und räuberischer Erpressung. Drei Frauen soll er zur
       Sexarbeit gezwungen und ihnen das Geld abgenommen haben. Die erste Zeugin,
       die dazu angehört wurde, ist Maya S. Ihr Fall zeigt, wie schwierig es ist,
       Menschen in einer Branche aus Grauzonen zu schützen.
       
       In Deutschland arbeiten laut Schätzungen 400.000 Menschen als
       Prostituierte. Offiziell gemeldet sind nur rund 40.400. Seit 2017 bestimmt
       das Prostitutionsschutzgesetz: Wer mit Sex Geld verdient, muss diese
       Tätigkeit anmelden und alle zwei Jahre zur Beratung erscheinen. Das Gesetz
       soll Prostituierte schützen: „vor Menschenhandel, Ausbeutung und Zwang“. Es
       soll ihre Selbstbestimmung stärken und kann es doch nur begrenzt.
       
       Zweiter Prozesstag in Stade, Mitte Januar. Maya S. sitzt im Wartezimmer vor
       dem Gerichtssaal. Richter Berend Appelkamp hat ihr gerade erklärt, dass
       Daniel R. vielleicht ein Geständnis ablegen wird, dass sie vielleicht gar
       nicht aussagen muss. Tränen fließen über ihre Wangen. Ihre Mutter hält ihre
       Hand. Es vergehen Stunden. Schließlich wird sie doch als Zeugin aufgerufen.
       
       ## Textnachrichten zu Weihnachten
       
       Wie die Geschichte von Maya S. und Daniel R. begann, ist nicht ganz klar.
       Vor Gericht erzählt sie, dass sie ihn bei Facebook anschrieb, Weihnachten
       2019, sie feierte allein. Sie texteten, trafen sich, redeten. Auch über
       ihre Idee, sich zu prostituieren. Vorher, sagt Maya S., habe sie nichts
       „damit“ zu tun gehabt. Ihre Schwester wird später als Zeugin das Gegenteil
       behaupten: „Ich weiß, dass Herr R. sie von jemandem weggeholt hat, der sie
       in ein Bordell in Holland stecken wollte.“
       
       Fest steht: Zunächst war Maya S. bereit, für R. als Prostituierte zu
       arbeiten. Im Januar 2020 zog sie zu ihm in eine Ein-Zimmer-Wohnung am
       Ortsrand, nachts schliefen sie auf derselben Matratze. R. fuhr sie auch zum
       Gesundheitsamt: Er wartete im Flur, während sie im Nebenzimmer ihren
       Prostituierten-Pass beantragte. „Ja, am Anfang hab ich zugestimmt“, sagt
       sie leise, „ich wusste ja nicht, dass das dann so läuft.“
       
       Fast jedes fünfte Opfer sexueller Ausbeutung war 2020 zur Prostitution
       angemeldet – [1][ganz legal, gemäß dem Gesetz]. Das berichtet das
       Bundeskriminalamt (BKA). Die Statistik zeigt: Eine Anmeldung schützt nicht
       automatisch vor Ausnutzung oder Zwang.
       
       Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen hat Polizeiakten zu
       Menschenhandel analysiert aus den Jahren 2009 bis 2013. Dabei kam heraus:
       Etwa jedes fünfte Opfer sexueller Ausbeutung begab sich zunächst freiwillig
       in die Prostitution, auch auf eigene Initiative. Laut BKA war es 2020 sogar
       jedes vierte Opfer.
       
       ## Plötzlich doch fremdbestimmt
       
       Dass es so öfter beginnt, weiß auch Sozialarbeiterin Rita Otte: „Es gibt
       Frauen, die die Idee spannend finden – und dann an Menschen geraten, die
       das ausnutzen, sie täuschen und unter Druck setzen.“ Otte betreut in
       [2][Hannover für den Verein Kobra] Betroffene von Menschenhandel und
       Prostitution. Sie sagt: „Diese Frauen wollen selbstbestimmt arbeiten und
       sind dann plötzlich ganz fremdbestimmt.“
       
       Mit Maya S. Anmeldung verfiel ihre Freiheit, so klingt es in ihrer Aussage.
       Vor Gericht sagt sie: „Wie lange und wie viele – das hat er entschieden.“
       Bei Whatsapp textete ihr Daniel R., [3][wann der nächste Freier klopfen]
       würde und was er wollte. „So sechs Männer waren es am Tag“, sagt S. Einmal
       die Woche hatte sie frei. Die Männer kamen in die Wohnung, in der sie mit
       Daniel R. lebte. Er ging dann und kehrte zurück, um das Geld zu holen. Rund
       12.000 Euro habe sie in einem Monat verdient, sagt Maya S. – und nichts
       davon behalten.
       
       „Bei Wohnungsprostitution ist es besonders schwer, Frauen zu schützen“,
       sagt Otte. „Denn niemand weiß, wie es ihnen geht.“ Sie sind unsichtbar.
       2020 fanden Fälle sexueller Ausbeutung laut BKA häufiger in Wohnungen statt
       als in Bordellen. Ein neuer Trend, den das BKA auf das
       Prostitutionsschutzgesetz von 2017 zurückführt.
       
       ## Zweimal geflohen, zweimal zurückgekehrt
       
       Denn das enthält klare Pflichten für Bordelle: Betreiber dürfen nicht
       vorbestraft sein, jeder Raum braucht einen Notrufknopf, Flatrate-Modelle
       sind verboten. Wer diese Regeln nicht befolgen will, weicht aus. „Das ist
       ein großes Problem: Frauen kann dann nur geholfen werden, wenn sie die
       Möglichkeit haben, sich selbst zu melden“, sagt Rita Otte.
       
       Im Gerichtssaal schauen Maya S. und Daniel R. einander nicht an. Sie sitzt
       seitlich auf ihrem Stuhl, abgewandt von ihm und seinem Verteidiger. Wie
       eine Schutzmauer liegt ihr Arm auf dem Tisch. Dass sie sich das letzte Mal
       gesehen haben, liegt fast zwei Jahre zurück.
       
       Zweimal, erzählt Maya S., ist sie vor Daniel R. geflohen. Zuerst zu ihrer
       älteren Schwester, vier Wochen, nachdem sie bei ihm eingezogen war. 300
       Kilometer Distanz schaffte sie zwischen ihn und sich. Er fand sie trotzdem,
       schickte ihrer Schwester Fotos von deren Wohnungstür, drohte und verlange
       10.000 Euro Lösegeld. Das bestätigt die Schwester im Zeugenstand.
       
       In dieser Zeit griffen Polizist*innen Maya S. auf der Straße auf,
       zufällig, an einem Abend im Wohnort der Schwester. Sie nahmen sie mit. Auf
       der Wache erzählte sie von R. Die Staatsanwaltschaft begann zu ermitteln.
       Trotzdem kehrte sie zu ihm zurück und floh kurz darauf ein zweites Mal, ins
       Frauenhaus.
       
       „Ob Frauen von Zuhältern wegkommen, hängt von vielen Faktoren ab“, sagt
       Rita Otte. „Wie hoch ist ihre emotionale Abhängigkeit? Wie groß ihr
       Schamgefühl, ihre Ängste? Wissen die Täter, wo sie wohnen? Werden sie
       bedroht? Dann ist es natürlich besonders schwer.“ Otte sagt auch: Selbst
       wenn sie bei der Polizei ausgesagt haben, kehren manche Frauen zurück. „Oft
       ist das Vertrauen nicht groß genug.“
       
       *Name geändert 
       
       Am Freitag, den 11. März, fiel das Urteil gegen Daniel R.: Das Landgericht
       Stade hat den Hauptangeklagten wegen schweren Menschenhandels verurteilt.
       In einem Fall soll er sich der ausbeuterischen Zuhälterei schuldig gemacht
       haben. Hinzu kommen räuberische Erpressung, Bedrohung, Handeltreiben mit
       Betäubungsmitteln und einiges mehr. Die Liste ist lang – die Strafe neun
       Jahre und sechs Monate Gefängnis.
       
       10 Mar 2022
       
       ## LINKS
       
   DIR [1] /Nur-wenige-Prostituierte-sozialversichert/!5573866
   DIR [2] https://kobra-hannover.de/
   DIR [3] /Diskussion-um-Strafen-fuer-Freier/!5647022
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Anaïs Kaluza
       
       ## TAGS
       
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