# taz.de -- Zwei Jahre Nahost-Krieg: „Wir hoffen, dass eines Tages der 8. Oktober beginnt“
> Zwei Jahre nach dem Überfall der Hamas auf Israel erinnern Eltern von
> Geiseln in Berlin an deren Schicksal. Rund 20 Entführte sollen noch am
> Leben sein.
IMG Bild: Idit und Kobi Ohel, Eltern des von der Hamas entführten Alon Ohel, geben die Hoffnung nicht auf
Cherut Nimrodis Stimme bebt, ganz leicht nur: „Jeden Morgen wachen wir auf,
und es ist der 7. Oktober“, sagt sie. „Wir hoffen, dass eines Tages der 8.
Oktober beginnt.“ Doch das passiere erst, wenn ihr Sohn [1][Tamir Nimrodi]
nach Hause komme – und nicht nur er, sondern auch die anderen, die seit
nunmehr fast zwei Jahren als Geiseln in Gaza festgehalten werden. „Aber es
müssen alle nach Hause kommen: die Lebendigen, um ihr Leben wieder aufbauen
zu können, die Toten für ein würdiges Begräbnis“, sagt Nimrodi.
Sie sitzt in einem weißen Ledersessel in einem Hotel in Berlin-Mitte. Auf
ihrem schwarzen T-Shirt ein Foto ihres Sohns, darunter in großen weißen und
roten Buchstaben die Forderung: „Bring him home now“ – bringt ihn nach
Hause, jetzt.
Nimrodi ist nicht allein nach Berlin gereist. Neben ihr sitzen Idit und
Kobi Ohel, die Eltern des von der Hamas gefangen gehaltenen Alon Ohel.
Außerdem [2][Chagit Chen], deren Sohn Itay Chen ebenfalls verschleppt
wurde. Und Efrat Machikawa, deren 80 Jahre alter Onkel Gadi Moses im Januar
freigekommen war.
Am Morgen haben die Familien im Kanzleramt mit Bundeskanzler Friedrich Merz
gesprochen. Ihre Kinder sind nicht nur israelische, sondern auch deutsche
Staatsbürger. Vier weitere Geiseln sind ebenfalls Deutsche: Tamir Adar, der
vermutlich nicht mehr lebt, die Zwillinge Gali und Ziv Berman und Rom
Braslavski, der von der Terrorgruppe Palästinensischer Islamischer Dschihad
(PIJ) festgehalten wird. Kurz vor dem Jahrestag des Hamas-Massakers sind
einige der Eltern nach Deutschland gereist, um an das Schicksal ihrer
Kinder zu erinnern – und um einmal mehr deren Freilassung zu fordern.
Fast zwei Jahre sind vergangen seit dem 7. Oktober 2023, als die Hamas in
den frühen Morgenstunden zunächst mehr als 4.000 Raketen auf Israel
abfeuerte und dann mit Tausenden Kämpfern und der Unterstützung anderer
militanter Gruppen wie des PIJ in das Land eindrang, Militärbasen, Kibbuzim
und das Nova-Technofestival überfiel. Die Terroristen ermordeten fast 1.200
Menschen und verschleppten 251 als Geiseln in den Gazastreifen. 48 von
ihnen sind bis heute dort. Nur rund 20 sind vermutlich noch am Leben.
Ob ihr Sohn dazugehört, weiß Nimrodi nicht. Seit dem 7. Oktober gibt es
kein Lebenszeichen mehr von ihm. Tamir Nimrodi ist die jüngste Geisel, die
noch in Gaza gefangen ist. Gerade mal 18 Jahre alt war er bei seiner
Entführung. Er war in einer Kaserne nahe der Grenze zu Gaza stationiert.
„Tamir war nicht in einer Kampfeinheit, er war Bildungsoffizier und
zuständig unter anderem für Menschen aus Gaza, die in Israel medizinisch
behandelt werden sollten“, sagt seine Mutter.
„Am 7. Oktober hat er sehr früh versucht, mich anzurufen, aber ich habe den
Anruf verpasst und nur seine Nachricht gesehen: ‚Bist du okay?‘ “ Da habe
sie von dem Angriff der Hamas noch gar nichts gewusst. Als sie Tamir dann
erreicht habe, sei er im Schutzraum gewesen und habe sie beruhigt. „Ich bin
bestimmt bald zu Hause“ – das sei die letzte Nachricht, die sie von ihrem
Sohn bekommen habe. 20 Minuten später sei er brutal von der Hamas entführt
worden.
Das letzte Lebenszeichen von Tamir ist ein Video auf Instagram – eines von
vielen, das die Angreifer ins Netz stellten und in denen sie Gewalt, Morde
und Entführungen teils in Echtzeit streamten. „Meine damals 14 Jahre alte
Tochter hat plötzlich geschrien: ‚Tamir wird entführt!‘ “, sagt Nimrodi.
„Wir konnten sehen, wie sie ihn brutal zusammengeschlagen haben, barfuß,
nur in seinem Pyjama, ohne seine Brille.“ Die Arme habe er schützend vor
den Kopf gehalten. „Dann hat er die Hände runtergenommen, und ich konnte
sein Gesicht sehen.“ Nimrodi stockt, muss innehalten. Erst als Efrat
Machikawa ihr eine Hand auf den Arm legt, spricht sie weiter: „Bis heute
sehe ich immer wieder dieses Bild vor mir, wenn ich schlafen gehe.“
Der Terror der Hamas, er ist auch ein Krieg der Bilder. Immer wieder
veröffentlicht sie Videos der Geiseln: abgemagert, verletzt, gefoltert. Von
Alon Ohel gibt es zwei solche Propagandavideos, das letzte ist von Ende
September. „Es war sehr schwer für uns, diese Bilder zu sehen“, sagt seine
Mutter Idit Ohel. „Gleichzeitig wissen wir so, dass er am Leben ist. Auch
wenn er verletzt ist, Granatsplitter im Körper hat und auf einem Auge nicht
mehr sehen kann.“
Sie mache sich große Sorgen um die Gesundheit ihres Sohns. „Sie lassen ihn
hungern, ein Jahr lang waren er und die anderen an Armen und Beinen mit
einer Motorradkette gefesselt. Danach konnten sie sich nicht auf den Beinen
halten, nicht gehen. Die Terroristen haben sie ausgelacht.“ Das hätten drei
andere Geiseln nach ihrer Freilassung berichtet, die mit Ohel gefangen
gehalten wurden. „Sie haben uns auch berichtet, dass er mit den Fingern auf
seinem Körper Musik macht“, sagt Idit Ohel. Ihr Sohn ist Musiker, spielt
Klavier. „Aber gewusst habe ich das eigentlich vorher. Ich weiß, dass er
das braucht, um durchzuhalten.“
Genaue Informationen über den Gesundheitszustand der Geiseln gibt es nicht.
Doch die Videos, die Verfassung freigelassener Geiseln sowie deren Berichte
sprechen eine deutliche Sprache. Und der nunmehr ebenfalls zwei Jahre
andauernde Krieg in Gaza mit zigtausend Toten ist auch für die Geiseln
gefährlich: Durch israelischen Beschuss wurden drei von ihnen, die sich
zuvor selbst befreit hatten, getötet. Freigekommene Geiseln berichteten von
nahen Luftangriffen. Dazu kommt die humanitäre Situation.
Die Versorgungslage im Gazastreifen verschlechterte sich vor allem nach
dem Ende der von Januar bis März 2025 andauernden temporären Waffenruhe,
als über 25 Geiseln freikamen und die Körper von acht Getöteten nach Israel
überführt wurden. Ab Anfang März ließ Israel keine Hilfsgüter mehr in den
Gazastreifen, fast zwei Monate lang. Das änderte sich ab Ende Mai, dennoch
kam lange zu wenig an, erst im August besserte sich die Lage langsam
wieder.
Schon als die israelische Regierung im Winter ihre Entscheidung verkündete,
die Grenzübergänge für Hilfsgüter zu schließen, warnten Geiselangehörige,
dass darunter auch ihre Lieben würden leiden müssen. Zwar waren auch die
zwischen Januar und März Freigelassenen teils von Hunger gezeichnet. Doch
es war absehbar, dass die Hamas den Mangel an Nahrungsmitteln in Gaza für
ihre Propagandazwecke nutzen würde. So erklärte ein Sprecher Anfang August:
„Die israelischen Gefangenen essen, was unsere Kämpfer und unser Volk
essen.“ Damals warnte auch ein Bericht des Forums der Geiselangehörigen,
die Entführten stünden kurz vor dem Hungertod.
Die Stimmen der Angehörigen sind bei den Protesten in Israel zentral.
Zigtausende gehen dort auf die Straßen und fordern einen Waffenstillstand.
Immer wieder hat die große Mehrheit der Familien das weitere Vorrücken der
israelischen Streitkräfte scharf kritisiert: Der Krieg bringe die Geiseln
nicht zurück, sondern gefährde ihre Leben noch mehr. Als Israel im
September die Offensive auf Gaza-Stadt begann, riefen die Familien einen
„Ausnahmezustand“ aus und bauten ein Zelt vor Premierminister Benjamin
Netanjahus Residenz in Jerusalem auf. Man werde „bleiben, bis Netanjahu
zuhört und den Willen der Menschen umsetzt – die sofortige Rückkehr aller
Geiseln und ein Ende des Kriegs“, erklärte das Hostages and Missing
Families Forum, das die meisten der Geiselangehörigen vereint. Auch als
[3][Netanjahu kürzlich vor leeren Rängen bei den Vereinten Nationen
sprach], protestierten draußen Angehörige.
In Berlin loben derweil Cherut Nimrodi, Chagit Chen, Idit und Kobi Ohel und
Efrat Machikawa den Einsatz des deutschen Botschafters in Israel, Steffen
Seibert. „Er hat uns von Anfang an zur Seite gestanden“, sagt Nimrodi. Auch
im Kanzleramt waren sie nicht das erste Mal zu Gast. Bei so vielen
Dankesworten fällt umso mehr auf, wer unerwähnt bleibt: die israelische
Regierung. Und sosehr die Anwesenden sich an diesem Tag mit politischen
Botschaften betont zurückhalten – ihre Kritik an der fehlenden
Unterstützung durch die israelische Regierung haben die Familien immer
wieder gezeigt.
Gibt der neue [4][Entwurf für einen Waffenstillstand], den US-Präsident
Donald Trump am Montagabend mit Netanjahu vorgestellt hat, ihnen Hoffnung?
„Wir müssen hoffen“, sagt Kobi Ohel. „Aber die Hamas muss zustimmen. Ich
glaube es erst, wenn der Deal unterschrieben ist und alle Geiseln bei uns
sind.“ „Ohne Hoffnung könnten wir nicht weitermachen“, sagt auch Chagit
Chen. „Aber ich verbiete mir, zu sehr zu hoffen. Denn zu oft sind diese
Hoffnungen zerschlagen worden. Sich dann wieder aufzurappeln, ist so
schwer.“
Chens Sohn Itay war am 7. Oktober als Soldat im Einsatz. Er und drei
weitere hätten versucht, die Terroristen davon abzuhalten, in die Kibbuzim
einzudringen, sagt Chen. „Wir haben die Blackbox ihres Panzers gehört.
Diese vier sind Helden. Sie haben Leben gerettet.“ Dann traf eine Rakete
den Panzer. Das Militär fand dort später die Leiche nur eines Soldaten.
„Von Itay und den anderen beiden fehlte jede Spur“, sagt Chen. „Etwa ein
halbes Jahr später klopfte es bei mir an der Tür. Sie sagten, Itay sei
vermutlich tot. Aber ich glaube das nicht. Nicht, bis sie ihn gefunden und
zurückgebracht haben.“
„Solange nicht alle Geiseln zurück sind, sind wir in diesem Tag gefangen“,
sagt Efrat Machikawa, die ihren Onkel schon wieder in die Arme schließen
konnte. „Deswegen zählen wir: Heute ist das 725. Mal der 7. Oktober.“ Die
anderen bekräftigen. „Vor allem an Feiertagen oder Geburtstagen merken wir,
dass die Zeit nicht wirklich stillsteht – aber wir selbst sind weit
zurückgefallen“, sagt Idit Ohel. – „Dieser schreckliche Tag muss endlich
enden“, sagt auch Chagit Chen. „Und gleichzeitig fürchte ich diesen Moment.
Denn dann kommt auch die Gewissheit: wer lebt und wer nicht und wie es um
die Lebenden steht.“
7 Oct 2025
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## AUTOREN
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