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       # taz.de -- die wahrheit: Frankfurter allgemeines Küchenlatein
       
       > Jeden Samstag veröffentlicht die FAZ eine Kolumne ihres
       > Gastronomie-Kritikers Jürgen Dollase. Die Wahrheit erkannte in ihm schon
       > vor einiger Zeit den "Frankfurter Allgemeinen Küchenmoses" (taz v. 13.
       > 11. 2007).
       
       Jeden Samstag veröffentlicht die FAZ eine Kolumne ihres
       Gastronomie-Kritikers Jürgen Dollase. Die Wahrheit erkannte in ihm schon
       vor einiger Zeit den "Frankfurter Allgemeinen Küchenmoses" (taz v. 13. 11.
       2007).
       
       Um sich diesen Titel zu sichern, leistet Dollase seinen Samstagsdienst. Er
       referiert nicht über Gekochtes, sondern "dekliniert" Aromen, Temperaturen
       und Texturen. Dazu benötigt er einen "systematischen Rahmen", das heißt
       eine Checkliste: "1. Morphologie: qualitative Einordnung des
       Ausgangsmaterials; 2. Sensorik I: Aromen; 3. Sensorik II: Aggregatzustände;
       4. kulinarische Konstruktion; 5. Rezeption und assoziative Verknüpfungen;
       6. historische und stilistische Einordnung; 7. ästhetische Diskussion und
       Wertung."
       
       Wen diese sieben Punkte an ein germanistisches Proseminar erinnern, liegt
       richtig. Hier wie dort geht es um eine "komplexe Werkanalyse", die "die
       Rückkoppelung an die kulinarische (sprich: literarische) Entwicklung der
       Gesellschaft oder die Stellung des Kulinarischen (sprich: Literarischen) in
       der Gesellschaft" vorantreibt. Dollases Sozio-Kulinarik wetteifert mit der
       akademischen Literatursoziologie.
       
       Wenn "ein Klassiker der Küchenmoderne interpretiert" wird, geht es zu wie
       bei der Deutung eines Gedichts von Rilke, wo auch "nicht plakativ knapp
       danebengegriffen wird, sondern ein Ausbund an Elementen von feinsten Aromen
       (sprich: Worten), die in ihrer Zartheit genau zu der schmelzenden Textur
       des Fischs (sprich: Gedichts) passen, installiert ist." Fisch oder Gedicht
       - küchensoziologisch zählt "natürliche Erdung".
       
       Im germanistischen Proseminar wurde um das Verhältnis von Form und Inhalt
       gestritten, so als ob die eine ohne den anderen zu haben wäre. Dollase
       reitet blüchermäßige Attacken gegen "ordinäre" Würzung und ein ebensolches
       Aroma unter dem Banner von Temperatur und Textur einer Speise, so als ob
       deren schmelzende Konsistenz oder Textur Aroma und Würze ersetzen könnten.
       Auch wenn ein Gericht danebengeht, kann Dollase "das texturelle Spiel" oder
       "die kreative Entschlossenheit" des Kochs preisen. Das wäre etwa so, wie
       wenn jemand sagte: Das Gedicht ist misslungen, aber das Metrum stimmt.
       
       Wenn es nach Dollase ginge, pfiffe die "Diktatur des Kulinariats" nicht aus
       Frankreich, sondern aus dem letzten Loch. Jetzt kommen Kerndeutsches wie
       der Ochsenmaulsalat, die Schnibbelbohnentarte und die "Schein und Sein"
       spaltenden "Blitze von Karotte, Sellerie oder Zucchini" auf den Tisch.
       
       Wo "texturelle Spektren" regieren, hat der Leser so wenig zu lachen wie der
       Esser zu essen, denn da geht es vom platten Teller steil nach oben - ins
       Sloterdijk-Sphärische, ins sturzbesoffene Metaphysische oder in Dollases
       Ratatouille-Deutsch: Der Leser/Esser partizipiert dann an "völlig neuen
       Horizonten, die den einzelnen Produkten nicht nahe sind, aber ohne sie auch
       nicht denkbar sind - Obertöne eben, kulinarische Akkorde, die sich nicht
       aufdrängen, die nicht offensichtlich sind, aber wie eine zweite oder dritte
       Informationsebene sein können, wenn man sie denn sucht und findet." Und was
       machen jene, die lieber essen, als "Obertöne" zu suchen? Sie vergessen
       Dollase - subito.
       
       16 Sep 2008
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Rudolf Walther
       
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