# taz.de -- Pekings neue Kader
> In China werden immer mehr Verwaltungsbeamte nach amerikanischem Vorbild
> ausgebildet
IMG Bild: Benjamin Nachtwey, Hotel Room / Instant Lullaby, 2006, Öl auf Leinwand, 20 x 20 cm
von Alessia Lo Porto-Lefébure
Wie lassen sich Chinas beeindruckende Erfolge in Bildung, Wissenschaft und
Technologie erklären, während das Regime autoritär wie eh und je agiert, ja
die bürgerlichen Freiheiten immer mehr beschneidet? Der Aufstieg des
modernen China zur Supermacht vollzieht sich jedenfalls nicht gegen den
Widerstand der öffentlichen Verwaltung: „Es sind im Gegenteil die Beamten,
die die nötigen Reformen umsetzen und die institutionellen Grundlagen dafür
schaffen, damit China eine Wohlstandsgesellschaft wird“, sagt Li Jing[1],
Harvard-Absolvent und Professor für Politikwissenschaft an der Universität
Peking.
Der öffentlichen Dienst im heutigen China basiert immer noch auf Deng
Xiaopings „Sozialismus chinesischer Prägung“ aus den 1980er Jahren: ein
kapitalistisches Marktmodell, das Konsumkultur mit Planwirtschaft
kombiniert. In diesem System, in dem die Kommunistische Partei Chinas
(KPCh) den Staat kontrolliert, der wiederum die Wirtschaft steuert, musste
die Verwaltung in den vergangenen 40 Jahren lernen, mit dem privaten Sektor
zu interagieren. Dabei steht sie unter einem ständigen Legitimationsdruck,
weil die technischen Herausforderungen immer komplexer geworden sind.
Im Ausland weiß man wenig über Chinas öffentlichen Dienst. Dabei haben in
den vergangenen zwei Jahrzehnten mehrere tausend Bedienstete einen aus den
USA importierten Master of Public Administration (MPA) nach dem Vorbild der
John F. Kennedy School of Government der Harvard University absolviert.
Offiziell wurde der MPA 1999 eingeführt. Seit Beginn des akademischen
Jahres 2001 gibt es die ersten Abschlüsse. Der MPA richtet sich an
Beschäftigte mit mindestens drei Jahren Berufserfahrung, hauptsächlich in
staatlichen Behörden und Unternehmen, steht aber auch Angestellten aus dem
privaten Sektor offen.
Dass in China ein Ausbildungsmodell made in America zur Anwendung kommt, um
die Arbeitskultur von Topverwaltungsleuten zu formen, ist auf den ersten
Blick erstaunlich. Denn es widerspricht dem Bestreben der KPCh, sich der
Welt als beispielhafte Alternative zum westlichen Kapitalismus zu
präsentieren. Manche halten den MPA deswegen für ein trojanisches Pferd
derjenigen Kräfte, die sich für eine Demokratisierung innerhalb der Partei
einsetzen. Aber wenn der MPA wirklich eine Geheimwaffe der Reformer wäre,
warum wurde seine Einführung in China dann so stark von der Regierung
gefördert?
Laut der Pekinger Tsinghua-Universität ist das Ziel des Programms „die
Vorbereitung auf die Herausforderungen von Leadership und Management im
öffentlichen Sektor“. Kandidaten mit mindestens einem Bachelor-Abschluss
werden, anders als an Partei- und Verwaltungsschulen, unabhängig von ihrer
Mitgliedschaft in der KPCh oder ihrem bisherigen Rang in der Verwaltung zur
Prüfung zugelassen.
Überraschenderweise wurde der MPA ausgerechnet in solchen akademischen
Einrichtungen ins Leben gerufen, die bei der Ausbildung von Behördenleitern
und Angestellten des öffentlichen Sektors bisher eine untergeordnete Rolle
gespielt haben. Verwaltungs- und Parteischulen bleiben außen vor, und so
existieren alte und neue Programme nebeneinander.
Die Umstellung in der akademischen Schulung der Beamten begann in den
1990er Jahren. Eine wissenschaftliche Ausbildung wurde stets mehr
geschätzt, gerade wenn sie von Institutionen von Weltrang kam, allen voran
von nordamerikanischen Universitäten (siehe nebenstehenden Beitrag).
Die angestrebte weltweite Konvergenz von Standards und Anforderungen
erklärt zumindest teilweise, warum die Regierung gerade die Universitäten
fördert, die den Ruf haben, neutral zu sein und sich der
Wissenschaftlichkeit verpflichtet sehen. Die Staatspartei schuf eine Reihe
von amerikanisch inspirierten akademischen Berufsabschlüssen: den Master of
Business Administration (MBA) im Jahr 1991, den Master in Architektur im
Jahr 1992, in Jura 1996, Erziehungswissenschaften und Ingenieurswesen 1997
sowie in Agrarwissenschaft 1999.
## Von Peking nach Harvard und zurück
Die öffentliche Verwaltung sollte da keine Ausnahme machen. Niemand in der
KPCh bestritt die Notwendigkeit, einen kompetenten und professionellen
öffentlichen Dienst aufzubauen. Die in den USA schon seit den 1920er Jahren
etablierte Verwaltungswissenschaft schien ein bewährtes Modell zu sein. Sie
war geschaffen worden, um Missstände und Korruption insbesondere auf
kommunaler Ebene zu bekämpfen. Die ersten Kurse als Vorläufer des MPA
fanden 1914 an den Universitäten von Michigan, Berkeley und Stanford statt.
Heute haben die rund 300 MPAs in den USA alle das gleiche Ziel: die Vision
einer öffentlichen Verwaltung konkret zu machen, die gemäß der Verfassung
Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung und Meinungsfreiheit neben anderen
Grundrechten und Freiheiten garantiert.
Der normative Einfluss, den die USA durch ihre geopolitische,
wirtschaftliche und nicht zuletzt sprachliche Macht weltweit ausüben, wird
in China durch die Überrepräsentation von in den USA ausgebildeten
Akademikern verstärkt. Nach mehr als einem Jahrhundert des akademischen
Austauschs zwischen China und den USA kann die chinesische Regierung auf
die direkte Erfahrung zahlreicher Absolventen zurückgreifen, die im Ausland
studiert haben und bereit sind, ihr Wissen und ihre Netzwerke für die
Praxis in China zu nutzen.
Zwischen 1996 und 1998 reisten Delegationen von Hochschulvertretern und
Beamten des Bildungsministeriums in die USA, nach Kanada und Europa, um die
besten Ausbildungssysteme für Verwaltungsbeamte zu studieren. Sie
konzentrierten sich auf die US-amerikanischen Geburtsstätten der
Public-Affairs-Ausbildung: die Maxwell School an der Syracuse University,
die John F. Kennedy School an der Harvard University, die Carnegie Mellon
University in Pittsburgh und die Columbia University in New York. Und
umgekehrt wurden Professoren aus diesen Institutionen als Berater nach
China eingeladen. Nach ihrer Rückkehr schrieben einige Delegierte außerdem
Aktenvermerke, in denen sie für die Einführung von US-amerikanischen MPAs
in China warben.
Im Mai 1999 beschloss die Regierung in Peking, den MPA auch in China zu
etablieren. Man lud die besten Universitäten ein, Vorschläge einzureichen
und wählte 24 für einen Pilotversuch aus. Der MPA wurde zuerst in den
renommiertesten Hochschulen des Landes eingeführt, allen voran die
Universität Peking, die Tsinghua-Universität, die Chinesische
Volksuniversität und die Fudan-Universität in Schanghai.
In den folgenden 15 Jahren wurden übers ganze Land verteilt mehr als 100
MPA-Institute gegründet. Inzwischen haben mehr als 150 000 Absolventen das
Studium durchlaufen – das sind zwar im Vergleich zu den 7,1 Millionen
Beamten im Land nicht viele, aber doch eine hohe Zahl für ein völlig neues
akademisches Angebot, für das man sich extra bewerben muss. Und die Zahl
der Einschreibungen wächst weiter. „Die Studierenden sind offensichtlich
beeindruckt von den Erfahrungen, die ich im Ausland gesammelt habe. Bislang
stammen die Konzepte und Ideen allesamt aus westlichen Büchern“, erklärt
Chen Wei, der heute an der Tsinghua-Universität lehrt und in Hongkong
studiert hat. Wie in den USA werden im MPA-Studium Politik,
Organisationstheorie, Sozialwissenschaften, Volkswirtschaft,
Personalmanagement und Verwaltungsrecht gelehrt; hinzu kommen Seminare, die
spezifischer auf die lokalen Bedürfnisse zugeschnitten sind, wie
beispielsweise öffentliche Verwaltung, Ordnungspolitik, Theorie und Praxis
des Sozialismus, Englisch, Regionalentwicklung und kommunales Management.
## Offene Diskussionen hinter verschlossenen Türen
„Die Herausforderung besteht darin, das Interesse meiner Studierenden zu
wecken“, so Chen weiter. „Ich habe dafür zwei Methoden: Ich unterrichte die
neuesten theoretischen Konzepte, und ich gebe viele Beispiele aus der
Praxis. Das ist sehr wichtig. Der MPA muss für die Kursteilnehmer nützlich
sein. Jedes neue Thema beginne ich mit einer Diskussion und lasse dabei
immer mehr die Studierenden sprechen, während ich mich eher zurückhalte.“
Da die Inhalte, Theorien und Beispiele aber alle aus dem Ausland stammen,
sind die Lehrenden vor allem als interkulturelle Mediatoren gefragt.
Schließlich muss die Ausbildung an die tägliche Berufspraxis in den
chinesischen Behörden angepasst werden. Doch die unübersehbaren politischen
beziehungsweise vor allem ideologischen Divergenzen zwischen dem Lehrstoff
aus den USA und dem angestrebten Lernziel sind natürlich ein Problem.
Hier ist die Kreativität der Lehrenden gefragt. Sie verweisen dann auf die
Kluft zwischen westlicher Theorie und lokaler Praxis und bemühen sich um
eine Sinisierung des Lehrplans. Daher stützen sich die MPA-Kurse inzwischen
vor allem auf Fallstudien. Diese Unterrichtsmethode mit Planspielen und
Diskussion, die Ende der 1880er Jahre in den US-amerikanischen juristischen
Fakultäten aufkam und dann von den Managementschulen popularisiert wurde,
wurde schnell auch zum Markenzeichen des chinesischen Masterstudiums. Die
behandelten Fallstudien dürfen sich allerdings nicht auf konkrete aktuelle
Ereignisse beziehen, zumindest nicht in einem sozialwissenschaftlichen oder
öffentlich-politischen Lehrumfeld. Doch durch eine Fiktionalisierung ist es
möglich, auch „sensible“ Themen in den Unterricht einzubringen, wie soziale
Ungleichheit, Korruption, Zwangsenteignung und Umsiedlung der Bevölkerung,
Umweltverschmutzung, Privatisierung von Energiequellen, Arbeitslosigkeit,
Prekarität, Missstände im Steuersystem und so weiter.
Vor allem ermöglichen die Fallstudien eine offene Diskussion, wenn auch
hinter verschlossenen Türen. Schließlich spielt sich das Ganze innerhalb
eines festen Rahmens mit vordefinierten Rollen ab. In einem Kurs an der
Tsinghua-Universität[2]wurde zum Beispiel folgender Fall durchgenommen:
„Was hat Priorität: Hochwasserschutz oder die Teilnahme an Sitzungen? Der
Fall eines administrativen Konflikts in einer regionalen Behörde.“
Die Studierenden wurden aufgefordert, über die Hierarchie nachzudenken und
Stellung zu beziehen im Konflikt zwischen den Anweisungen des Vorgesetzten
und der Notwendigkeit, akut einzugreifen. In diesem Fall ging es um eine
drohende Überschwemmung am Jangtse-Fluss. Die Aufgabe endete mit den
folgenden Fragen: „Was würden Sie tun, wenn Sie der Leiter der Behörde
wären? Wie lautet Ihre Entscheidung, und wie begründen Sie diese? Ist das
Unbehagen des Behördenleiters vermeidbar? Was, denken Sie, sind die Gründe
für diesen Konflikt?“ Ziel der Aufgabe war es, die strikte Anwendung von
Verfahren sowie den Gehorsam gegenüber der Hierarchie zu hinterfragen.
Ohne offen zu Ungehorsam oder Widerstand aufzurufen, regen solche
Fallstudien doch zur Reflexion über den freien Willen und den gesunden
Menschenverstand an, der die Entscheidungen von erfahrenen und mit den
lokalen Gegebenheiten vertrauten Beamten leiten soll.
Damit wird es möglich, in die Grauzonen des Verwaltungshandelns diskursiv
einzudringen, ohne dabei offen Stellung beziehen zu müssen. Die
ergebnisoffenen Fragen implizieren, dass alle Optionen legitim und
vertretbar sind und im Seminar diskutiert werden können. Die Studierenden
sprechen immer über das heutige China, aber so, als beträfe die Diskussion
lediglich einen Fall aus dem Lehrbuch. Man kann über alles reden, ohne
Angst zu haben, irgendwelche Grenzen zu überschreiten oder von den
Kommilitoninnen in die Schranken gewiesen zu werden – denn man redet ja gar
nicht direkt über die Realität.
Das Unterrichten nach der Fallstudienmethode wird in der Regel returnees
anvertraut, wie die Chinesen genannt werden, die im Westen, in Japan oder
in Hongkong studiert haben und heute Führungspositionen in Unternehmen oder
an Universitäten bekleiden. Dank dieser mit westlichen Theorien vertrauten
Professoren überbrücken die Fallstudien die Kluft zwischen anderen Ideen
und ungewohnten Methoden auf der einen Seite und der Fähigkeit der
Kursteilnehmer, diese zu verstehen und in ihren beruflichen Kontext zu
übertragen.
In der Tat entspricht vieles von dem, was die Studierenden im Unterricht
lernen, nicht dem, was sie aus den Behörden kennen, in denen sie gearbeitet
haben. Diesen gefährlichen Spagat können nur die Rückkehrer leisten, da sie
beide Welten mit ihren jeweiligen Besonderheiten und Zwängen kennen.
Die ersten Beförderungen geben einen Einblick in die aktuelle
Transformation der chinesischen Bürokratie. Ohne zu destabilisieren, tragen
die Anregungen aus dem Ausland zu Veränderungen bei. MPA-Studierende eignen
sich neue Konzepte, Ideen und Werte wie Verantwortung,
Korruptionsbekämpfung, technische Kompetenz und gute Regierungsführung an.
Sie erfinden eine Verwaltungskultur neu, deren innovatives Potenzial mit
dem alten System koexistieren kann. Je nach politischer Entwicklung kann
dieser Transfer beschleunigt, reduziert oder vorübergehend gestoppt werden.
Zum Beispiel „erlaubt uns die traditionelle Auffassung der
Verwaltungstätigkeit nicht, auf die aktuellen gesellschaftlichen
Herausforderungen zu reagieren“, erklärt Wang Ping, MPA-Absolvent der
Fudan-Unversität. „In der Vergangenheit sind unsere Bürger bei allen
Streitigkeiten vor Gericht gezogen. Jetzt wissen sie auch über
Schlichtungsverfahren Bescheid. Wenn Bürger ihre Streitigkeiten ohne den
Staat lösen können, spart das Ressourcen. Unsere Aufgabe ist es daher, die
Gewohnheiten der Bevölkerung zu ändern, damit mehr Streitigkeiten durch
Schlichtung gelöst werden. All dies war nur durch die Einführung der neuen
Theorien möglich.“
Er könne natürlich nicht immer alles anwenden, was er gelernt habe, räumt
Ping ein. „Es ist ein langer Prozess, aber durch meine Tätigkeit und das
Wissen, das ich mir angeeignet habe, kann ich auf lange Sicht Einfluss auf
die Arbeitsweise ausüben.“ Ehemalige Studierende verwenden oft das Wort
„Fähigkeiten“ (nengli auf Chinesisch). Ihr Abschluss verleiht ihnen
langfristig eine größere Handlungsfähigkeit, Mittel und sogar Macht (neng
bedeutet Fähigkeit, Fertigkeit oder auch Berechtigung; li heißt Stärke,
Macht, Einfluss).
„Die im Rahmen des MPA gelehrten Theorien sind Leitlinien für meine Arbeit
und für die Entwicklung der Arbeit der Behörden“, so Wang Ping weiter. „Sie
sind ein Mittel zur Veränderung. Nach dem Abschluss habe ich die
Personalabteilung meiner Behörde gedrängt, noch mehr Kolleginnen an die
Universität zu schicken. Mit einem Master in der Tasche wird man zwar nicht
gleich befördert und er dient auch nicht der Karriere, aber ich glaube,
dass die Ausbildung äußerst nützlich ist, um die Arbeitsweise der Beamten
zu verändern.“
Der MPA und die anschließende Anwendung des Erlernten ermöglichen es den
jungen Absolventen, „Tugend“ (auf Chinesisch de) zu verkörpern, einen der
Leistungsindikatoren für Parteikader – wenn auch nicht unbedingt im Sinne
der kommunistischen Ideologie. Mit gemeinsamen Visionen und Werten
ausgestattet, sehen sich diese Schüler als moderne Aufklärer, die in der
Lage sind, alte wie neue Verhaltensregeln gleichermaßen zu meistern.
Sie wissen, wie man sich anpasst und beruflich weiterentwickelt, sowohl in
einem traditionellen System, das immer noch auf politischer Loyalität
basiert, als auch in einem neuen Umfeld, das stärker auf Wissen und
berufliches Können setzt. Diese neue Beamtenschaft will an allen Fronten
mitmischen, um die Aussichten auf den sozialen Aufstieg zu maximieren –
unabhängig davon, in welche Richtung sich ihr Land entwickelt und ob gerade
die Modernisierer oder die Konservativen die Richtung in China vorgeben.
Sie ist bereit, jede Chance zu ergreifen, wo immer sie sich ergibt.
1↑ Die Namen sind fiktiv. Die Aussagen entstammen Interviews, die hier
publiziert wurden: „Les Mandarins 2.0“, Paris (Sciences Po) 2020.
2↑ Cas CCCC-05-40-E, School of Public Policy and Management of Tsinghua
University, Peking 2005.
Aus dem Französischen von Nicola Liebert
Alessia Lo Porto-Lefébure ist Soziologin an der Universität in Rennes und
Autorin von: „Les Mandarins 2.0. Une bureaucratie chinoise formée à
l’américaine“, Paris (Presses de Sciences Po) 2020.
7 Jan 2021
## AUTOREN
DIR Alessia Lo Porto-Lefébure
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