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       # taz.de -- Jüdisch sein nach Gaza
       
       > Über den Zusammenhang von Opfernarrativen und repressiver Herrschaft
       
   IMG Bild: Ralf Peters, Citrus, 2017, C-Print, Diasec, 60 × 141,5 cm
       
       von Peter Beinart
       
       Wenn man einem Benjamin Netanjahu zuhört, mag man es vielleicht nicht
       glauben, aber wir Juden sind nicht die Einzigen, die ihre
       Verfolgungsgeschichte instrumentalisieren, um ihre Vorherrschaft zu
       rechtfertigen. Die Buren zum Beispiel errichteten während der Apartheid in
       Südafrika überall Denkmäler, die an die Konzentrationslager der Briten
       während des Zweiten Burenkriegs (1899–1902) erinnern sollten.
       
       Wir mögen wenig über diese Geschichte wissen und halten sie verglichen mit
       unserer jahrtausendealten Verfolgung vielleicht für unbedeutend. Doch sie
       prägte tatsächlich lange das Weltbild vieler burischer Südafrikaner. Diese
       sahen sich von allen Seiten bedroht, von innen durch die Schwarzen
       Südafrikaner, die ihnen angeblich nach dem Leben trachteten, und von außen
       durch die Briten sowie die restliche unzuverlässige, verlogene westliche
       Welt, die ihre Verfolgung achselzuckend hingenommen hatte.
       
       Heute kommt einem dieses Narrativ paranoid und absurd vor. Doch noch in
       meiner Kindheit, die ich während der Apartheid zeitweise in Kapstadt
       verbrachte, glaubte ein Großteil der Weißen Südafrikaner fest daran. Anders
       als wir es vielleicht wahrhaben wollen, unterscheidet es sich gar nicht so
       sehr davon, wie wir Juden über Israel sprechen. 
       
       Wenn sich Juden einen Staat vorstellen, in dem die Palästinenser „from the
       river to the sea“ die gleichen Rechte genießen, fürchten viele, dass ihr
       schönes Tel Aviv in Barbarei und Chaos versinken würde. Ebensolche Ängste
       schürten damals auch die Weißen Südafrikaner. So sprachen sie mit der
       gleichen Abscheu über Nigeria und den Kongo wie jüdische Israelis heute
       über Syrien oder den Irak reden. In dieser Weltgegend sei Gewalt eben
       endemisch und Minderheiten, die sich nicht selbst zu verteidigen wüssten,
       seien dem Untergang geweiht.
       
       Simbabwe galt als besonders abschreckendes Beispiel. 1987 behauptete sogar
       die progressive Politikerin Helen Suzman (1917–2009), die sich in Südafrika
       jahrzehntelang für die Gleichberechtigung der Schwarzen eingesetzt hatte,
       dass das Ende der Weißen Vorherrschaft im Nachbarland „20 000 Menschenleben
       gekostet“ habe, und warnte, ein Machtwechsel in Südafrika könnte noch weit
       verheerendere Folgen haben.
       
       Wenn mir heute Leute sagen, Juden und Palästinenser könnten nicht
       gleichberechtigt zusammenleben, weil dergleichen im Nahen Osten
       schlechterdings unmöglich sei, blicke ich vier Jahrzehnte zurück. Und ich
       erinnere mich an meine Verwandten, die die Diktaturen und Bürgerkriege
       nördlich des Limpopo-Flusses als Beweis dafür anführten, dass Schwarze und
       Weiße in einem demokratischen Südafrika nicht zusammenleben könnten. Die
       einzigen Südafrikaner, von denen ich dergleichen nie zu hören bekam, waren
       Schwarze, so wie ich heute selten mitbekomme, dass Palästinenser so etwas
       behaupten.
       
       Die Weißen Südafrikaner fürchteten sich nicht weniger davor, ins Meer
       getrieben zu werden, als jüdische Israelis heute. Vielleicht hatten sie
       sogar noch größere Angst davor, weil ihr Bevölkerungsanteil noch geringer
       war und sie auf deutlich weniger Verbündete im Ausland zählen konnten. Sie
       hielten Nelson Mandelas African National Congress (ANC) für eine
       terroristische Vereinigung und standen mit dieser Einschätzung nicht allein
       da. Auch die US-amerikanische Regierung stufte den ANC so ein.
       
       Der Rivale des ANC, der Pan-Africanist Congress (PAC), dessen inoffizielles
       Motto „ein Siedler, eine Kugel“ lautete, flößte ihnen noch mehr Angst ein.
       Selbst Schwarze Bürgerrechtler, die dem gewaltsamen Widerstand abgeschworen
       hatten, wie der 1984 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Bischof
       Desmond Tutu, taten sich schwer damit, die Gewalt zu verurteilen, so wie
       viele Palästinenser heute.
       
       Die meisten Weißen Südafrikaner hielten es für ausgemacht, dass ihr Leben
       ohne eine Weiße Armee am seidenen Faden hing. Laut einer Meinungsumfrage
       von 1979 waren 84 Prozent der Weißen Südafrikaner davon überzeugt, dass
       „die leibliche Unversehrtheit der Weißen durch eine Schwarze Regierung
       bedroht“ wäre. Aus der Sicht Weißer Südafrikaner sei „Rassenintegration
       nationaler Selbstmord“ schrieb der Journalist und Gegner der Apartheid
       Allister Spark.[1]In Bezug auf die Palästinenser sehen das viele jüdische
       Israelis heute genauso.
       
       Ein ähnliches Narrativ wie die Weißen Südafrikaner verbreiteten auch die
       nordirischen Protestanten. Auch sie rechtfertigten ihren
       Herrschaftsanspruch mit Verfolgungsgeschichten. Jeden Juli schwenkten sie
       ihre Fahnen und sangen ihre Lieder zur Erinnerung an die Belagerung von
       Londonderry im Jahr 1689, als ihre Vorfahren lieber verhungerten, als sich
       einem katholischen König zu unterwerfen. Auch sie sahen sich von innen und
       außen bedroht. So fürchteten sie, die „katholischen Horden“ könnten
       Nordirland vom Vereinigten Königreich abspalten und einem – in ihren Augen
       – rückständigen und autoritären Irland einverleiben.
       
       Die protestantischen Iren hatten außerdem eine Heidenangst davor, von
       London im Stich gelassen zu werden. Auch hier gibt es eine Parallele zu den
       Weißen Südafrikanern und vielen jüdischen Israelis: Man traute dem
       halbherzigen und doppelzüngigen Westen nicht. Für die Protestanten war es
       eine Horrorvorstellung, dass die Katholiken ihnen rechtlich gleichgestellt
       werden könnten. Sie sahen nur den Terror der IRA und waren blind für die
       Unterdrückung der katholischen Iren. Es schauderte ihnen bei dem Gedanken,
       wozu „die Killer“ imstande wären, wenn man ihnen die Staatsgeschäfte
       überließe. Als unter dem Druck der britischen, irischen und
       US-amerikanischen Regierung die Protestanten mit dem Karfreitagsabkommen
       von 1998 ihre Vorherrschaft aufgaben, bezeichnete ihr Anführer Ian Paisley
       (1926–2014) dies tatsächlich als „Vorspiel zum Genozid“.
       
       Aus dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861–1865) sind ähnliche Äußerungen von
       Weißen Südstaatlern überliefert. Ihre Opferstory war die
       „Reconstruction“ genannte Wiedereingliederung der ausgetretenen
       Südstaaten in die Union. In diesem Narrativ der inneren und äußeren Feinde
       wurde der Süden nach dem Bürgerkrieg von gewalttätigen Schwarzen und der
       fernen Bundesregierung in Washington ausgeplündert.
       
       So erklärte etwa Alabamas Gouverneur George Wallace noch 1963, während der
       Reconstruction sei „der Süden über den Tisch gezogen worden“. Er sagte dies
       in einer Rede, in der er vor der Bürgerrechtsbewegung warnte. Hier seien
       die gleichen teuflischen Kräfte am Werk wie anno 1865: Schwarze, die an die
       Macht strebten, unterstützt von linken Nordstaatlern.
       
       Keine 20 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vernichtung der
       europäischen Juden verglich Wallace den angeblich diskriminierenden
       behördlichen Umgang im Bundesstaat Mississippi gegenüber Weißen mit der
       Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung durch die deutschen
       Nazis.
       
       Das war natürlich ein extremer Vergleich, doch die darunterliegenden Ängste
       waren allgegenwärtig. Mitte des 20. Jahrhunderts betrachteten die meisten
       Weißen in den Südstaaten die Gleichberechtigung der Schwarzen als
       monströsen Irrsinn. Sie konnten sich nicht von dem Konzept der
       Vorherrschaft lösen. Es gab für sie nur ein Entweder-oder um die
       Vorherrschaft, erklärt der Historiker Jason Sokol, der über die Geschichte
       der Bürgerrechtsbewegung forscht: Rechte für Schwarze hieß für sie, dass
       nun „die Weißen ‚das Joch tragen‘ müssten“.[2]
       
       Warum lagen diese verängstigten Anhänger der White Supremacy falsch? Warum
       sind die Genossen vom ANC und PAC nach dem Ende der Apartheid nicht in das
       Wohnviertel meiner Großmutter gestürmt und haben reihenweise Weiße
       massakriert? Warum hat die IRA nicht die protestantischen Viertel von
       Londonderry heimgesucht?
       
       Die Antwort auf diese Fragen ist im Grunde verblüffend simpel: Weil die
       meisten Menschen – ob Schwarz, Weiß, katholisch, muslimisch,
       palästinensisch oder was auch immer – nicht gern zu den Waffen greifen. Sie
       wollen weder töten noch getötet werden. Sie tun es nur, wenn sie das Gefühl
       haben, es gebe keine andere Wahl.
       
       In der Geschichte der Emanzipations- und Unabhängigkeitsbewegungen hat sich
       immer wieder gezeigt, dass die Unterdrückten aufhören, ihr Leben aufs Spiel
       zu setzen, wenn sie mitbestimmen können und sich dadurch Gesprächskanäle zu
       den Mächtigen öffnen. Das bringt die politische Gewalt zwar nicht zum
       Verschwinden, aber es verringert sie.
       
       Warum gab es beispielsweise in Südafrika keinen Guerillakrieg wie in
       Simbabwe? Weil die Weiße Regierung schneller begriffen hatte, dass sich ein
       Aufstand nur dadurch verhindern ließ, wenn man den Schwarzen das Wahlrecht
       einräumt. Aus demselben Grund sind die Straßen von Alabama heute sicher.
       Man stelle sich das Ausmaß rassistisch motivierter Gewalt in Wallace’
       Heimatstaat vor, hätten die Schwarzen in den Südstaaten 1965 nicht das
       Wahlrecht erhalten.
       
       Oder denken wir an die brutale „Halskette“ des ANC. Mit dem
       sogenanntennecklacingwurden Schwarze Kollaborateure des Apartheidregimes
       bestraft. Die Genossen legten dem Unglücklichen einen in Benzin getränkten
       Reifen um den Hals und zündeten ihn an. Noch 1985 erklärte Nelson Mandelas
       Frau Winnie, die damals eine Autorität war unter den Schwarzen Südafrikas:
       „Mit unseren Streichholzschachteln und Halsketten werden wir dieses Land
       befreien.“
       
       Der ANC hat diese Praxis nie verurteilt, und den Weißen Südafrikanern
       schauderte bei dem Gedanken, solchen Leuten die Geschicke des Landes zu
       überlassen. Doch als ein unblutiges Ende der Apartheid am Horizont
       erschien, „befürwortete kaum noch jemand das Necklacing“, erklärt der
       ugandische Anthropologe und Politikwissenschaftler Mahmood Mamdani.[3]Die
       „Halskette“ war eine grausame Antwort auf ein grausames System. Mit dem
       Untergang des Systems verschwand auch diese Praxis.
       
       Mamdanis im Grunde simple Feststellung, dass Inklusion zu mehr Sicherheit
       führt, bestätigen unzählige Forschungsarbeiten. Eine 2010 veröffentlichte
       Untersuchung über 146 ethnische Konflikte seit Ende des Zweiten Weltkriegs
       ergab, dass ethnische Gruppen, die von der staatlichen Macht ausgeschlossen
       wurden, dreimal so häufig zu den Waffen gegriffen haben wie solche, die in
       Regierungen eingebunden wurden. Und die israelische Konfliktforscherin
       Limor Yehuda stellte in ihren Buch „Collective Equality“ fest, dass es in
       Ländern, die „politische Ausgrenzung und strukturelle Diskriminierung“
       praktizieren, vergleichsweise häufiger zu Bürgerkriegen kommt.[4]
       
       1↑ Allister Sparks „Tomorrow Is Another Country. The Inside Story of South
       Africa’s Road to Change“, Chicago (University of Chicago Press) 1996.
       
       2↑ Jason Sokol, „There Goes My Everything. White Southeners in the Age of
       Civil Rights, 1945–1975“, New York (Knopf) 2006.
       
       3↑ Mahmood Mamdani, „Neither Settler, Nor Native. The Making and Unmaking
       of Permanent Minorities“, Cambridge (Cambridge University Press) 2020.
       
       4↑ Limor Yehuda, „Collective Equality. Human Rights and Democracy in
       Ethno-national Conflicts“, Cambridge (Cambridge University Press) 2023.
       
       Aus dem Englischen von Robin Cackett 
       
       Peter Beinart ist Journalist. Der vorliegende Text basiert auf einem Auszug
       aus seinem Buch „Being Jewish after the Destruction of Gaza“, London
       (Atlantic Books) 2025.
       
       9 Oct 2025
       
       ## AUTOREN
       
   DIR Peter Beinart
       
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